Ente am Ende
Offener Brief an die Stadtbücherei Düsseldorf
Mittwoch, 26. Februar 2014, 11:41

Sehr geehrte Damen und Herren,

mit Freude und Genugtuung stelle ich fest, dass Sie sich von linken Tugendwächtern und Gutmenschen, wie sie etwa im Europarat sitzen, nicht beirren ließen und mit dazu beitrugen, dass der Enthüllungsknüller Deutschland schafft sich ab des selten mutigen Thilo Sarrazin zu den meistverkauften Sachbüchern in gebundener Form (Hardcover) seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurde, indem Sie es (laut Online-Katalog) gleich in sieben Exemplaren angeschafft haben.

Ich vermisse allerdings einen anderen weltbekannten und noch heute viel diskutierten kontroversen Bestseller in Ihrem Sortiment: Mein Kampf von Adolf Hitler. Zwar führen Sie von diesem vielleicht populärsten Autor deutscher Zunge die weniger bekannten Veröffentlichungen Monologe im Führerhauptquartier sowie Reden, Schriften, Anordnungen; aber gerade seinen größten Verkaufsschlager sollten Sie sich doch ebenfalls sobald als möglich in größerer Anzahl zulegen, um ihn vor allem der noch unverbildeten Jugend auf breiter Front zugänglich zu machen.

Mit deutschnationalen Grüßen

usw.

senf dazu



tama, 2014.02.26, 17:38
Lese ich da richtig?
7? (In Worten: SIEBEN??)

Was soll denn dieser bestandspolitische Unsinn?!

Ein Mal MUSS es da sein (Schon alleine aufgrund der Medienpräsenz.) - Usus wären dann kurzfristig zwei bis drei Exemplare, um dem "Ansturm" gerecht zu werden - aber mehr Exemplare sind nun wirklich Unsinn, wenn sich keine langfristige Nachfrage in dieser Größenordnung erwarten lässt bzw. wäre es angeraten, im Nachhinein die Dubletten "gesund zu schrumpfen" (Ich denke immer noch an eine bestimmte Jugendbibliothek, die auch nach dem Hype um Harry Potter und Co. unbedingt zehn Exemplare pro Band im Regal stehen haben muss, davon in aller Regel höchstens je zwei Exemplare entliehen... Wohlgemerkt: Ausgesondert werden mussten wegen Benutzung schon so manche Exemplare, aber die dann unbedingt direkt wieder erneuern??).

Man möge mir verzeihen, dass ich mich hier schwerpunktmäßig auf die Bestandspolitik der Bibliothek stütze, aber sogar rein unparteiisch und neutral gedacht ließe sich der Etat, welcher für die weiteren Exemplare ausgegeben worden sind, wesentlich nützlicher einbringen...

(Nein, ich habe den Schinken nicht gelesen - und ich werde mich auch weiterhin weigern, es zu tun.)

Ich habe mir den Schinken besorgt (natürlich kostenlos als PDF) und das letzte Kapitel gelesen, in dem ein "Ausblick auf Doitschland in 100 Jahren" gewagt wird, wo dann die letzte Kirche zu einer Moschee umgewidmet wird, weil die Doitschen sich ja nicht mehr vermehren und auch nicht mehr treudoof-katholisch bzw. evangelisch sind, und ich dachte mir: "Ach, wär das denn wirklich sooo furchtbar?"

Dass dieser pseudowissenschaftliche volksverhetzende Mist angeschafft werden MUSS, sehe ich auch nicht ein - wer entscheidet eigentlich über so etwas (wo muss ich mich beschweren)?

Und generell bin ich auch der Ansicht, bei knappen Budgets sollte in Stadtbüchereien (anders als bei Uni-Bibs natürlich) von jedem Titel nur ein Exemplar (und also insgesamt umso mehr verschiedene Bücher) angeschafft werden. Die meterhohen Harry-Potter-Stapel zeigen aber, dass sich auch in diesem Fall die kurzfristige Nachfrage gegenüber dem langfristig Vernünftigeren durchgesetzt hat.

Nun, wenn ich mal ohne Zeigefinger klugscheissen darf ;), Bestandsmanagement ist schon komplizierter, gerade wegen der begrenzten Mittel. Verbunden damit ist ja auch der berühmt-berüchtigte öffentliche Auftrag öffentlicher Bibliotheken (Zugegeben, von dem merkt man nicht wirklich viel - also, ich zumindest. Ich könnte schon ausflippen, wenn ich irgendwo "Bestsellergebühr" lese...)

Zunächst grundgesetzlich: Informationsfreiheit. Also darf sich jeder ungehindert aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert unterrichten (sprich, Kram, der nicht auf irgendwelchen Indices steht oder Jugendschutz und so Kram). Und dann von der Bibliothek aus: Demokratie direkt unterstützen, keine Zensur, auch keine indirekte üben, wenn es um Anschaffungen geht, ermöglichen, direkt am gesellschaftlichen Diskurs teilzuhaben, etc. pp. Das beinhaltet natürlich auch, aus meiner Sicht ganz richtigerweise, das eigene politische und gesellschaftliche Verständnis außen vor zu lassen in dem Sinne, als dass nach objektiven, aber leider auch nach wirtschaftlichen Kriterien angeschafft wird, insbesondere bei den aktuell immer noch stattfindenden Etatkürzungen.

Heißt erstmal bezogen darauf, ob ein gewisser Herr mit gewissen Ansichten angeschafft werden muss und soll:
Ja (auch wenn ich beileibe kein Fan bin und ich persönlich einen Bogen um derartige Druckwerke mache), denn dieser Herr bildet in dem Moment, in dem dieses Buch durch Medien etc. aktiv thematisiert wird, auch einen Teil des gesellschaftlichen Diskurses. Heißt, so lange dieses Buch nicht im Index landet, wird eine Bibliothek, die ihre Aufgaben ernst nimmt, wenigstens ein Exemplar dieses Buches anschaffen (um z.B. den Vorgang einer eigenen Meinungsbildung zu unterstützen, da Bibliotheken ja auch unabhängig vom Geldbeutel Zugang zu Informationen gewährleisten sollen; ja, wenn es nach mir ginge, wären die Gebühren dort wesentlichen günstiger, wenn nicht gar abgeschafft, aber ich mache die Bibliotheksordnungen ja nicht). Sonst könnte man der Bibliothek zu Recht vorwerfen, Zensur zu üben (anders als z.B. beim neuesten Rosamunde Pilcher Roman oder dem xten Werk über Lobbyismus oder einer weiteren Zeitschrift rechtsextremistischen Inhaltes - diese tauchen in der Regel nicht übermäßig medienpräsent auf, sind als solches nicht Teil des politischen Diskurses und fallen entsprechend der geringen Etatverfügbarkeit zum Opfer, indem sie nicht angeschafft werden - abgesehen von möglichen Bibliotheks- und Bestandsprofilen, mit denen sich Bibliotheken immer häufiger eigene Bestandsrichtlinien verleihen. - Klar hat sie dennoch das Recht, Herrn S. nicht anzuschaffen. Die Frage ist nur, ob das langfristig politisch ein gutes Licht auf die Bibliothek wirft, bezogen auf Träger und Kunden usw.).

Dann bezogen auf die Etatmittel:
Begrenzt, logisch. Ebenso logisch ist aber auch, dass die Kosten ja nicht damit abgedeckt sind, indem das Werk angeschafft wird: da kommen nochmal Kosten für Medienbearbeitung und -einarbeitung drauf, ggf. Reparaturkosten und Ersatzkosten, wenn die Ausleihen explodieren und für die immer in der Rechtfertigungsecke stehenden Bibliotheken noch enorme Imagekosten, wenn Nachfragen nur unverhältnismäßig bedient werden können (Unverhältnismäßig heißt: Der Kunde, der ein Medien vormerkt, steht so weit hinten in der Warteliste, dass er länger als zwei Monate warten muss - beim Twilight-Boom gab es trotz Dutzendfacher Anschaffung teils Wartelisten von bis zu einem halben Jahr. Hier aber greift wieder die Staffelung der Exemplare, denn wenn es schon acht bis zwölf Exemplare eines Werkes in einer Bibliothek gibt, wird der Wartende nichtmal halb so grantig, wie er es berechtigterweise bei nur zwei Staffelexemplaren würde - da muss die Bibliothek aus aus Gründen des Bestandsschutzes dringend nachkaufen.).

Je mehr Exemplare ich anschaffe, desto geringer ist die Belastung des einzelnen Exemplars und desto seltener muss ich es in die Buchbinderei geben - das rappelt sich sonst unter Umständen, wenn ich nur zwei Exemplare habe und prompt habe ich mehr ausgegeben, als wenn ich direkt entsprechend viele Bücher angeschafft hätte. - Geld, das mir dann anderswo fehlt.

Bei Beschwerden, die mit dem Bestand zusammenhängen, können Sie verschiedene Wege beschreiten: Entweder wenden Sie sich direkt an den Lektor des jeweiligen Sachgebietes, im nächsten Schritt können Sie den Bibliotheksdirektor informieren und wenn das alles nichts nützt, ist eine Beschwerde am besten beim Träger aufgehoben: Bürgermeister, Senat und im Extremfall hätte ich auch kein Problem damit, unter Vorlage der Kopien des vorangegangenen Schriftverkehrs oder anderweitige Protokolle direkt beim Land Beschwerde einzulegen (Denn was beispielsweise auch viele nicht wissen: Gebühren usw. fallen gar nicht der Bibliothek zu, die fließen direkt ans Bundesland, in dem die Bibliothek liegt - Ausnahme sind Eigenbetriebe, aber die sind noch selten...)

Und wenn der Kram auf den Index soll (womit Sie direkt sämtliche Bibliotheken in der Bundesrepublik, mit Ausnahme der DNB und anderer entsprechender Fachbibliotheken tangieren), wäre wohl der Verfassungsschutz die richtige Anlaufstelle? ;-)

(Ich hoffe, ich werde nicht falsch verstanden. Ich habe in erster Linie die allgemeine Praxis, wie ich sie erlebt habe und wie sie mir beigebracht worden ist, skizziert. Ich selbst als Lektorin würde es übrigens entgegen meines Verständnisses auch nicht anders machen, da ich die Thekenbüchereienmentalität nicht weiter pflegen will, sondern der Einzelne bei meiner Arbeit im Vordergrund steht - oder stehen würde, angekommen bin ich leider noch nicht...)

Edit:
Oh, und was ich noch vergessen habe: Was noch ganz groß auf bibliothekarischen Fahnen steht, ist die Hilfestellung bei der politischen Meinungsbildung.

Das nenne ich eine kleine Anmerkung... ; )
Heißen Dank für die vielfältige fachliche Beleuchtung des (offenbar doch eher verzwickten) Themas.
senf dazu
 
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