Protokoll einer galoppierenden Verwahrlosung - Teil II
Nicht oft kommt es mehr vor, dass ich meine Wohnhöhle - zumal in dieser unwirtlichen Jahreszeit - verlasse, und noch seltener ist es, dass ich weiter als bis zum nahegelegenen Penny-Markt vordringe; vorgestern aber war es dann doch mal wieder soweit, und ich trottete die altehrwürdige Graf-Adolf-Straße (1933 bis 1945 naheliegenderweise: "Adolf-Hitler-Straße") entlang, die den Hauptbahnhof mit der Luxuskonsummeile Königsallee (kurz: Kö) verbindet.
War dies nicht einmal eine prachtvolle Flaniermeile gewesen?! Als kleiner Bub aus der Vorstadt kam es mir jedenfalls so vor. Großes Kino hatte es hier einst gegeben; ich erinnere mich an das kolossale Savoy, in dem ich mit acht Jahren Richard Chamberlain als Graf von Monte Christo sehen durfte und an meinem neunten Geburtstag die Dino-Sause Caprona - Das vergessene Land, oder auch an das Residenz, wo ich in einem der fünf Säle mit elf Jahren und einigen Klassenkamerad_innen John Travolta und Olivia Newton-John in Grease bestaunte (alle drei Filme waren übrigens erst "ab zwölf")... tempi passati, die Multiplexe haben ihnen den Garaus gemacht. Aber immerhin: ein paar Pornoschuppen sind geblieben.
Ansonsten: allerorten Auflösung. Sogar das legendäre Spielzeugkaufhaus Lütgenau, wo ich einst meine ersten Meriten als Ladendieb gesammelt hatte, ist inzwischen pleite; dafür gibt es jetzt gegenüber einen dubiosen Krawattenladen mit dem schönen Namen "Penner Palast".
Wo früher einmal (allerdings lange vor meiner Zeit) ein Arabisches Café war, steht heute noch die hässliche alu-verblendete Fassade einer "Galeria Kaufhof" (s.u.l.), über deren Verkaufsfläche sich einst die Büroräumlichkeit meines letzten Brötchengebers (und damit bis 2002 mein Arbeitsplatz) befand. Der gegenüberliegende McDonalds (s.u.r.), seinerzeit der erste in der Stadt, existiert natürlich immer noch; aber das danebenliegende Knarrengeschäft, an dessen Schaufenster ich mir als kleiner Rotzig früher die Nase plattgedrückt hatte, ist auch verschwunden, und das Ladenlokal steht leer, wie so vieles hier. (In diesem Fall vielleicht kein großer Verlust - und wenigstens Pfeifen Linzbach hält noch die Stellung.)
"Metzen billig" - Geschichte. Ebenso der prima Plattenladen, den es hier mal gab... und wo ist denn das Café Schneider geblieben, wo sich früher an unzähligen Tischen so trefflich Billard spielen ließ?
Schließlich der Bahnhof: in meiner Kindheit ein abenteuerlicher, verwinkelter Ort, wo ich so manche Comic-Kostbarkeit aufstöberte und es die neue "Micky Maus" immer schon zwei Tage vor dem offiziellen Erscheinungstermin zu kaufen gab; jetzt schon seit etlichen Jahren eine entseelte Passage, in der sich eine Fressbäckerei ("Kamps" - "Brezelbub" - "Kack & Back" usw.) an die Nächste reiht und alle zusammen (trotz bzw. gerade wegen des strengen Rauchverbots) fleißig die Luft verpesten.
Wenigstens hat auf der Hinterseite (auch nicht gerade ein Ausbund architektonischen Feingefühls) die Stadtbibliothek noch geöffnet, Ziel meiner kleinen Odyssee durch die bunten Schatten der Vergangenheit und eine graumelierte Gegenwart. Auf meinem Rückweg habe ich dann lieber eine andere Route gewählt.
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