an die Studienanfänger_innen 2012
Liebe Erstsemester,
als ich vor über einem Vierteljahrhundert (bzw. in einem längst versunkenen Jahrtausend) an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Uni Düsseldorf (die damals noch nicht Heinrich-Heine-Uni hieß, obwohl sie es mehr verdient hätte als heutzutage) zu studieren anfing, da war dies noch ein zwar zunächst erschreckend unübersichtlicher, aber nach kurzer Eingewöhnung sehr heimeliger Ort mit einem ganz eigenen Lebensgefühl. Seminare gab es ab frühestens 9:15 Uhr, von 12:45 bis 14:15 war Mittagspause, und generell gab es (von wenigen Ausnahmen abgesehen) keine Pflichtkurse und keine Anwesenheitspflicht. Um einen Schein zu erwerben, reichte es in der Regel aus, sich in der ersten oder zweiten Sitzung in die Anwesenheitsliste einzutragen und ein Referats- oder Hausarbeitsthema zu übernehmen, ggf. irgendwann im Semester sein Referat zu halten und in der letzten Woche (oder auch in einer Sprechstunde) seine Arbeit abzugeben. Und wenn schönes Wetter war oder sich in der Cafetería ein interessantes Gespräch ergab, ließ man Vorlesung oder Seminar eben sausen - und hatte oft auch nicht allzuviel verpasst.
Wenn ich heute über den Campus gehe, erkenne ich diese Stätte meiner (zugegebenermaßen reichlich prolongierten) Adoleszenz kaum wieder. Die Mensa (wo einst ein Stammessen – mit Option auf Nachschlag – zwei Mark kostete und mindestens einmal pro Semester fette Partys stattfanden): ein seelenloses, überteuertes Kantinen-Bistro. Die Caféte der Phil-Fak (wo es einst für Tee- und Kaffeedabeihaber heißes Wasser umsonst – aber nicht „für lau“ – gab): plattgemacht und von Bauzäunen vergittert (wie überhaupt die halbe Uni und ganz Düsseldorf). Die Grünflächen, auf denen früher so oft getrunken, gekifft und gefeiert wurde: verwaist, bebaut, verschwunden. Schwarze Bretter und freies Plakatieren: verboten und kommerziellen Werbeflächen gewichen. Und die Studentenschaft: von acht Uhr an im Einsatz, ohne echte Mittagspause, mit starren Stundenplänen, Anwesenheitspflicht, Hausaufgaben, Klausuren und der Maßgabe, innert dreier Jahre den Bachelor zu machen, kaum noch zu ehrenamtlichen Engagement in Fachschaften, Referaten und Studentenvertretungen in der Lage. Die Stimmung: Fremd- statt Selbstbestimmung; das Gefühl: wie in der Schule.
Und durch die strengen Präsenzpflichten und die zwischenzeitlich eingeführten Studiengebühren können sich Kinder nicht-betuchter Eltern ohnehin kaum noch ein Studium leisten – denn BAFöG (als Darlehen, nicht wie früher als Vollzuschuss) bekommt sowieso kaum noch wer, und neben dem Studium arbeiten ist auch kaum noch möglich. So wird vor allem ein Schmalspurstudium in BWL und Jura gepusht, was sich wirtschaftlich rechnet, und die Geisteswissenschaften verkümmern; denn die relativ gelassene Atmosphäre, in der das Studium oft vor noch gar nicht langer Zeit verlief, war zur Entfaltung der geistigen Horizonte (und dem Blick über den fachlichen Tellerrand) nicht nur förderlich, sondern absolut erforderlich.
Ich weiß: solche Litaneien à la "Früher war alles besser" nerven kolossal – aber ich hätte heute und unter diesen Bedingungen keine Lust mehr zu studieren.
Aber egal: macht das Beste draus. Viel Erfolg!
Als ich mein Studium begann, gab es noch kein Hartz IV. Ich mußte nicht arbeiten, weil ich bescheiden von meinem Stipendium gelebt habe. Das muß heute immer noch möglich sein, wenn auch nicht beliebig lang. Wer von Hartz IV lebt, hätte sicherlich Zeit für ein Studium, der vollbeschäftigte Arbeiter leider nicht.
Ich ahnte, meine Zeit würde ziemlich bald gekommen sein, als die ersten Anzugträger und Tussis mit bestrasssteinten Smartphones neben mir in der Mensaschlange auftauchten.
Ich verspüre tiefe Dankbarkeit insbesondere einem Politikprofessor gegenüber, der uns damals nahelegte, selbst zu denken, selbst zu fragen und unkonventionelle Wege zu gehen. Irgendwann wurde er von der Uni gegrault, weil sein Stoff zu wenig konform und zu links gewesen sei - auch er wieder jemand, der sich nicht rentierte und den Leuten eher beibrachte, das System der totalen Verwertung zu hinterfragen, statt sich ihm anzupassen.
Nun denn, es hat sich ausgebummelt, und mit den bolognareformierten Studenten von heute würde ich auch nicht tauschen wollen. Ja, Breite lernen statt Tiefe. Und hinterher alles schnell wieder vergessen, was man da Fragwürdiges gelernt hat. Dazu fiel mir schon vor einer Weile bloß noch der Begriff "Bildungsbulimie" ein.
Aus eigener Erfahrung behaupte ich mal, man war früher sO frei zu studieren und sich auf nichts zu spezialisieren, geschweige denn sich breit zu orientieren, dass man - wenn überhaupt ein Abschluss angestrebt wurde - mit ebensolchem Halb- bis Fünftelwissen die uni verließ wie die Masse heute. Ohne verbindliche Prüfungen lernt man halt in der Regel nix und ich würde heute tunlichst meiden, einen Arzt aufzusuchen oder ein Rechtsanwalt, der von seiner Materie so wenig Ahnung hat, wie früher ein durchschnittlicher German/Anglistik, Philo- oder SoWi-Absolvent. Da konnte man nämlich eine Magister erhalten und vom Fach insgesamt nicht viel mehr wissen als jedeR Hobbyinteressierte, also mal so 2-10 Bücher im Jahr gelesen zu haben (statt 200 oder dgl. mehr). Natürlich gab es immer 'Kreative', die das Studium - meist durch viel Selbstdisziplin - zu nutzen wussten und nachher wirklich 'gescheit' waren - aber die wird's heute in der gleichen Minderheit auch geben. Die Masse geht da eh nur hin, um mit Wissenschaft später nicht mehr viel am Hut zu haben, und für die Phil.fak. gilt wahrscheinlich weiterhin, dass das Studium nicht soo zwingend für den späteren Beruf sein wird.
Aber die Kritik bleibt natürlich: absolut verschultes Studium auf einem komplett entpolitisierten Campus, mit gehetzten aber anpassungsfähigen Studis!
Die Frage wäre ja auch: warum kams denn so? Leider haben sich ja die Alt-68er-Profs i.d.R. aus allem (Bologna-Reformen) rausgehalten, nach dem Motto: ich bin ja eh bald weg. Damit ist dann leider der kritische Geist beinahe vollständig aus der Uni (zumindest was die mir teils bekannten Bereiche betrifft) entwichen, und ohne den kann wohl, egal unter welcher Studienform, von der neuen Studi-Generation nicht viel erwartet werden. - Aber ich hab auch von meiner Generation (der beinahe letzten vor allen Bildungsreformen in Schule und Uni) seit dem Kindergarten nix erwartet!! ;-)
➥ Zur Petition Weiterentwicklung: Demokratie
➥ Das Prinzip Permanentes Plebiszit
We were all just hanging around waiting to die and meanwhile doing little things to fill the space.
Charles Bukowski