Ente am Ende
Ungehaltene Rede eines Ex-Bummelstudenten
an die Studienanfänger_innen 2012
Freitag, 5. Oktober 2012, 17:31

Liebe Erstsemester,

als ich vor über einem Vierteljahrhundert (bzw. in einem längst versunkenen Jahrtausend) an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Uni Düsseldorf (die damals noch nicht Heinrich-Heine-Uni hieß, obwohl sie es mehr verdient hätte als heutzutage) zu studieren anfing, da war dies noch ein zwar zunächst erschreckend unübersichtlicher, aber nach kurzer Eingewöhnung sehr heimeliger Ort mit einem ganz eigenen Lebensgefühl. Seminare gab es ab frühestens 9:15 Uhr, von 12:45 bis 14:15 war Mittagspause, und generell gab es (von wenigen Ausnahmen abgesehen) keine Pflichtkurse und keine Anwesenheitspflicht. Um einen Schein zu erwerben, reichte es in der Regel aus, sich in der ersten oder zweiten Sitzung in die Anwesenheitsliste einzutragen und ein Referats- oder Hausarbeitsthema zu übernehmen, ggf. irgendwann im Semester sein Referat zu halten und in der letzten Woche (oder auch in einer Sprechstunde) seine Arbeit abzugeben. Und wenn schönes Wetter war oder sich in der Cafetería ein interessantes Gespräch ergab, ließ man Vorlesung oder Seminar eben sausen - und hatte oft auch nicht allzuviel verpasst.

Wenn ich heute über den Campus gehe, erkenne ich diese Stätte meiner (zugegebenermaßen reichlich prolongierten) Adoleszenz kaum wieder. Die Mensa (wo einst ein Stammessen – mit Option auf Nachschlag – zwei Mark kostete und mindestens einmal pro Semester fette Partys stattfanden): ein seelenloses, überteuertes Kantinen-Bistro. Die Caféte der Phil-Fak (wo es einst für Tee- und Kaffeedabeihaber heißes Wasser umsonst – aber nicht „für lau“ – gab): plattgemacht und von Bauzäunen vergittert (wie überhaupt die halbe Uni und ganz Düsseldorf). Die Grünflächen, auf denen früher so oft getrunken, gekifft und gefeiert wurde: verwaist, bebaut, verschwunden. Schwarze Bretter und freies Plakatieren: verboten und kommerziellen Werbeflächen gewichen. Und die Studentenschaft: von acht Uhr an im Einsatz, ohne echte Mittagspause, mit starren Stundenplänen, Anwesenheitspflicht, Hausaufgaben, Klausuren und der Maßgabe, innert dreier Jahre den Bachelor zu machen, kaum noch zu ehrenamtlichen Engagement in Fachschaften, Referaten und Studentenvertretungen in der Lage. Die Stimmung: Fremd- statt Selbstbestimmung; das Gefühl: wie in der Schule.

Und durch die strengen Präsenzpflichten und die zwischenzeitlich eingeführten Studiengebühren können sich Kinder nicht-betuchter Eltern ohnehin kaum noch ein Studium leisten – denn BAFöG (als Darlehen, nicht wie früher als Vollzuschuss) bekommt sowieso kaum noch wer, und neben dem Studium arbeiten ist auch kaum noch möglich. So wird vor allem ein Schmalspurstudium in BWL und Jura gepusht, was sich wirtschaftlich rechnet, und die Geisteswissenschaften verkümmern; denn die relativ gelassene Atmosphäre, in der das Studium oft vor noch gar nicht langer Zeit verlief, war zur Entfaltung der geistigen Horizonte (und dem Blick über den fachlichen Tellerrand) nicht nur förderlich, sondern absolut erforderlich.

Ich weiß: solche Litaneien à la "Früher war alles besser" nerven kolossal – aber ich hätte heute und unter diesen Bedingungen keine Lust mehr zu studieren.

Aber egal: macht das Beste draus. Viel Erfolg!

senf dazu



wuerg, 2012.10.06, 17:25
So war das also vor 25 Jahren. Mein Studium vor 40 Jahren war noch schöner trotz des Muffes von tausend Jahren unter den Talaren. Heute muß mehr gelernt werden, vorwiegend in die Breite. Trotzdem ist das studentische Leben immer noch schön, wenn man die Gelegenheit zu würdigen weiß, an einer gebührenfreien Universität in Vorlesungen und Seminaren billig an hervorragendes Wissen zu kommen. Andere müssen ihre Arbeitskraft verkaufen.

Nun ja, das Wissen ist meines Erachtens nicht mehr so hervorragend bzw. breit gefächert wie noch vor zehn Jahren; und Sozialhilfeempfänger z.B. dürfen gar nicht studieren, weil sie sonst ihr Hartz IV gestrichen bekämen. Und sich einfach uninskribiert in irgendein Seminar reinsetzen geht auch nicht mehr, weil es eine begrenzte Teilnehmerzahl gibt und man sich schon in den Semesterferien online mit Matrikelnummer anmelden muss.

Ich will die heutige Studiensituation nicht schönreden und halte persönlich nichts von Klausuren und Anwesenheitslisten. Doch Massen von Abiturienten stellen heute andere Anforderungen an Universitäten als zur Zeit der Studentenrevolte. Es sind möglichst viele in kurzer Zeit zu einem Abschluß zu bringen. Wie in der Schule, reicht ein bescheidenes Maß an Begabung, Fleiß und Beständigkeit, mit dem man früher das Handtuch hat werfen müssen. Für die Überlebenden aber war es das Paradies.

Als ich mein Studium begann, gab es noch kein Hartz IV. Ich mußte nicht arbeiten, weil ich bescheiden von meinem Stipendium gelebt habe. Das muß heute immer noch möglich sein, wenn auch nicht beliebig lang. Wer von Hartz IV lebt, hätte sicherlich Zeit für ein Studium, der vollbeschäftigte Arbeiter leider nicht.
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sturmfrau, 2012.10.06, 19:39
Ach, wie Sie mir aus dem Herzen sprechen. Ich kann mir kaum vorstellen, wie diejenigen, die sich nach mir Bummelstudentin an der Uni einfanden, in trauter Runde beisammen säßen nach dem Seminar wie wir dereinst, die wir die Themen genüsslich weiterspannen, uns die Köpfe heiß redeten, Prof war mit dabei, und wir wuchsen über uns hinaus. Heute steht über allem damoklesartig "Und was springt dabei für mich heraus? Wieviele Punkte?" Und bei all dem Druck keine Lust mehr, für's Leben zu lernen - rentiert sich ja auch nicht mehr.

Ich ahnte, meine Zeit würde ziemlich bald gekommen sein, als die ersten Anzugträger und Tussis mit bestrasssteinten Smartphones neben mir in der Mensaschlange auftauchten.

Ich verspüre tiefe Dankbarkeit insbesondere einem Politikprofessor gegenüber, der uns damals nahelegte, selbst zu denken, selbst zu fragen und unkonventionelle Wege zu gehen. Irgendwann wurde er von der Uni gegrault, weil sein Stoff zu wenig konform und zu links gewesen sei - auch er wieder jemand, der sich nicht rentierte und den Leuten eher beibrachte, das System der totalen Verwertung zu hinterfragen, statt sich ihm anzupassen.

Nun denn, es hat sich ausgebummelt, und mit den bolognareformierten Studenten von heute würde ich auch nicht tauschen wollen. Ja, Breite lernen statt Tiefe. Und hinterher alles schnell wieder vergessen, was man da Fragwürdiges gelernt hat. Dazu fiel mir schon vor einer Weile bloß noch der Begriff "Bildungsbulimie" ein.

Eben eine Radikalöonomisiserung der einstmals m.o.w. unabhängigen Institution "Universität". Ganz schön gruselig, wie grundstürzend der Neoliberalismus sich da durchgesetzt hat...
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chudn, 2012.10.09, 17:17
Ja ich kann der berechtigten Jammerei um vergangene Zeiten voll zustimmen!! Und natürlich hat man - gerade in einem so langen Philosophie-Studium - dialektisch zu denken gelernt, in der Hoffnung, dieses nicht mit dem 'einerseits-andererseits-Denken' zu verwechseln.

Aus eigener Erfahrung behaupte ich mal, man war früher sO frei zu studieren und sich auf nichts zu spezialisieren, geschweige denn sich breit zu orientieren, dass man - wenn überhaupt ein Abschluss angestrebt wurde - mit ebensolchem Halb- bis Fünftelwissen die uni verließ wie die Masse heute. Ohne verbindliche Prüfungen lernt man halt in der Regel nix und ich würde heute tunlichst meiden, einen Arzt aufzusuchen oder ein Rechtsanwalt, der von seiner Materie so wenig Ahnung hat, wie früher ein durchschnittlicher German/Anglistik, Philo- oder SoWi-Absolvent. Da konnte man nämlich eine Magister erhalten und vom Fach insgesamt nicht viel mehr wissen als jedeR Hobbyinteressierte, also mal so 2-10 Bücher im Jahr gelesen zu haben (statt 200 oder dgl. mehr). Natürlich gab es immer 'Kreative', die das Studium - meist durch viel Selbstdisziplin - zu nutzen wussten und nachher wirklich 'gescheit' waren - aber die wird's heute in der gleichen Minderheit auch geben. Die Masse geht da eh nur hin, um mit Wissenschaft später nicht mehr viel am Hut zu haben, und für die Phil.fak. gilt wahrscheinlich weiterhin, dass das Studium nicht soo zwingend für den späteren Beruf sein wird.

Aber die Kritik bleibt natürlich: absolut verschultes Studium auf einem komplett entpolitisierten Campus, mit gehetzten aber anpassungsfähigen Studis!

Die Frage wäre ja auch: warum kams denn so? Leider haben sich ja die Alt-68er-Profs i.d.R. aus allem (Bologna-Reformen) rausgehalten, nach dem Motto: ich bin ja eh bald weg. Damit ist dann leider der kritische Geist beinahe vollständig aus der Uni (zumindest was die mir teils bekannten Bereiche betrifft) entwichen, und ohne den kann wohl, egal unter welcher Studienform, von der neuen Studi-Generation nicht viel erwartet werden. - Aber ich hab auch von meiner Generation (der beinahe letzten vor allen Bildungsreformen in Schule und Uni) seit dem Kindergarten nix erwartet!! ;-)

Klar konnte mann und frau sich auch jahrelang vor Prüfungen drücken - ich glaube, es gibt heute noch so ein paar Spezis. Ich halte die oben geschilderte legere Atmosphäre auch nur für eine notwendige, noch nicht aber hinreichende Bedingung für die Erweiterung des Bewusstseins... ; )
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vacilando, 2012.10.17, 06:57
Welche rheinische Frohnatur leidet nicht an der Phobie, dass alles witzlos wäre, wenn uns unter solchen Bedingungen das Lachen nicht vergehen würde. Amtlich gesehen, ist dies mit den strengen Auflagen der Paßbildbestimmungen schon geschehen. Der Geist des Controllings, Lernerfolgskontrolle, dominiert. Eigenverantwortliches statt geschultes Denken wird zum Karriererisiko. Die Hürden bleiben auch unantastbar. Den Psychologen entschwindet der Gegenstand. Humor und Lust, Neugier und Entdeckerfreude verfangen sich in Networking.

Ich fürchte, diese vielbeschworene "rheinische Frohnatur" ist (zumindest, was Düsseldorf betrifft) vor allem eine ziemlich billige Marketing-Masche...
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