Ente am Ende
Sinnentstellende Kürzung: Ein Lehrstück
Freitag, 20. November 2020, 12:47

Als ich vor zwei Wochen eine Entgegnung auf Herbert Grönemeyers ZEIT-Artikel verfasste und hier online stellte, ließ ich den Text auch der ZEIT-Redaktion zukommen, der es gefallen hat, diesen als Leserbrief unter meinem Namen zu veröffentlichen - allerdings um die mir wesentlich erscheinenden Punkte gekürzt und damit vom Sinn her entstellt, wenn nicht gar ins glatte Gegenteil verwandelt.

Zur Dokumentation hier zunächst der Artikel, wie ich ihn eingesandt hatte (kompletter Text) und wie er dann veröffentlicht wurde (grüne Schrift; die roten Stellen fielen der kürzenden Bearbeitung zum Opfer, blaue Stellen wurden hinzu"bearbeitet"):

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Herbert Grönemeyer wünscht sich, dass sich die „circa 1,8 Millionen Millionäre“ in Deutschland „bereit erklären würden zu einer zweimaligen Sonderzahlungen von zum Beispiel 50.000 bis 150.000 Euro, jeweils in diesem wie auch im nächsten Jahr“, denn dann „stünden ad hoc circa 200 Milliarden Euro pro Jahr zur Verfügung, um Existenzen zu sichern, Pleiten aufzufangen und Ängste zu mildern.“ Und wenn ich seine Ausführungen richtig verstanden habe, soll dieses Geld an „unsere Crews, Techniker, Bühnenbauer, Beleuchter, Trucker, Busfahrer, Caterer, Roadies, Aufbauhelfer, Toningenieure, Clubbesitzer, Veranstalter, Securities und viele weitere fließen, ohne die alle Künstler hilf- und glanzlos sind“, insgesamt „ungefähr eine Million Beschäftigte und 10.000 Acts, Künstler und Künstlerinnen“, ausgegeben werden.

Abgesehen davon, dass ich diese Idee einer Umverteilung grundsätzlich sehr gut finde,
die Beiträge aber eher prozentual als in absoluten Summen erheben (immerhin gibt es auch über 100 Milliardäre im Land (https://www.forbes.com/billionaires/), und die könnten dementsprechend auch das tausendfache beitragen) und nicht darauf warten würde, bis sich „die Wohlhabendsten bereit erklären würden“ (denn darauf dürften wir erfahrungsgemäß ewig warten) – ein sich aus diesen Zahlen ergebendes Jahreseinkommen von 200.000 € bzw. monatlich 16.667 € finde ich dann doch etwas allzu großzügig (auch wenn es für Herbert Grönemeyer vielleicht das persönliche Existenzminimum darstellt). Würde wäre ich eher dafür, das Geld dagegen an alle Einwohner des Landes zu verteilt werden, hätte immerhin jeder 2.500 € jährlich oder gut 200 € pro Monat mehr in der Tasche, was zumindest die Bedürftigsten schon erheblich entlasten würde.

Und deshalb hier auch von mir einmal ein „grober Gedanke in eigener Sache“:

Wir Arbeitslosen und auf „Hartz IV“ Angewiesenen sind vielleicht auch systemrelevanter, als viel denken. Nicht nur, dass wir als Drohkulisse die Arbeitenden („Arbeitnehmer“) bei der Stange halten, damit sie ihre eigenen teilweise höchst prekären Arbeitsverhältnisse möglichst klaglos erdulden; wir produzieren auch sehr wenig CO2, weil wir kaum Reisen unternehmen und uns oft auch kein Auto leisten (können)
, generell wenig konsumieren und auch nicht täglich hunderte Kilometer durch die Gegend pendeln, um dann in irgendwelchen Bullshitjobs irgendwelchen Wegwerfschrott produzieren.

Schöner noch wäre freilich ein von den Wohlhabendsten dieser Welt (bzw. anteilig von uns allen) finanziertes weltweites bedingungsloses und existenzsicherndes Grundeinkommen; dies würde nicht nur einige der drängendsten Probleme der Weltbevölkerung lösen und uns allen gemeinsam vielleicht noch ermöglichen, das Klima zu retten, sondern dann bräuchten auch Künstler nicht mehr „für Brot“ zu produzieren, sondern könnten ihre Begabungen frei nach Laune ausleben, wie alle anderen ebenfalls frei wären, wie Marx es schon vorhergesehen hat, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“ (Die deutsche Ideologie. Marx/Engels, MEW 3, S. 33, 1846/1932).

Aber das sind natürlich nur schöne Hirngespinste, denn da ist allemal noch die Verwertungslogik des globalen Kapitals davor.


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Mir ging es in meinem Text vor allem um zweierlei: Die ins Groteske gesteigerten Partikularinteressen der durch HG ohne Mandat vertretenen "Kunstszene" anhand der Berechnung der aus seinen Zahlen resultierenden Monats- und Jahreseinkünfte bloßzustellen sowie diesen ein gesamtgesellschaftliches Solidaritätsmodell auf zunächst landesweiter, dann aber (umso wichtiger) internationaler Grundlage entgegenzustellen.

In der jetzt veröffentlichten Version dagegen sehe ich mich als tumber Egoist dargestellt, der doch wieder nur für seine Klientel (obendrein noch die "vom Staat alimentierten Sozialschmarotzer") das Bestmögliche herausholen will.

Eine Scheiße das alles!

senf dazu



hikikomoriarty, 2020.11.20, 14:58
Die ZEIT ist sich auch für nichts zu schade! Sehr traurig. Als potentieller angehender Umschüler bin ich im Moment wieder einmal auf Tuchfühlung mit dem "Schweinesystem" und ich habe nicht den Eindruck, dass so etwas wie gesamtgesellschaftliche Solidarität hier und heute möglich. Im Gegenteil: ich sehe eher eine immer größere und diversere Menge von Partikulärinteressen, die gegeneinander ausgespielt werden, oder zumindest miteinander konkurrieren. In der Frage Kommunismus oder Barbarei würde ich mein Pferd auf Barbarei setzen. Eine Scheiße das alles, indeed!

Ich würde natürlich aus Wahrscheinlichkeitsgründen auch eher auf Barbarei setzen, wenn es da bloß irgendeine echte Aussicht auf Gewinn gäbe...
senf dazu
 

kuena, 2020.11.21, 17:41
Moin, grämen Sie sich nicht, hey, Sie haben es in die Zeit geschafft (spannender Nachname, nebenbei bemerkt)!

Rein Zufällig habe ich uns diese Woche nach langer Zeit mal wieder eine gegönnt, eigentlich lese ich sie nicht mehr, weil ich mich viel zu oft aufgeregt habe, aber Freud auf der Titelseite hat mich angesprochen, angesichts dessen, dass ich gerade Freunde in Richtung Nervenzusammenbruch gehen sehe.

Dass Ihr Artikel es nicht in Gänze geschafft hat, klar, sehr bedauerlich, aber, bei der Auswahl an Leserbriefen zu dem Thema geht es der Zeit offensichtlich um einen anderen Punkt, Sie gehen halt viel weiter und das Thema noch ganz anders an. Wie heißt es immer? „Leserbriefe geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, wir behalten es uns vor sie zu kürzen.“ Gut, mit der Auswahl und den Kürzungen geben sie dann eben doch die Meinung der Redaktion wieder. Sie kommen insgesamt durch die Kürzungen aber nicht so schlecht weg, so sinnentstellend ist das nicht, dass Sie sich grämen müssten. Immerhin wurde das gedruckt was gedruckt wurde, selbst das hätte ich der Zeit eigentlich nicht zugetraut. Schön wäre natürlich ein Hinweis zu Ihrer Seite gewesen mit dem Vermerk: „den ganzen Artikel finden Sie hier“, oder so.

Ein schönes Wochenende wünsch ich Ihnen.

Vielen Dank für die aufmunternden Worte. Eine Gegendarstellung werde ich wohl nicht erzwingen (können).
Ich erwäge aber ernstlich, mein Abo (das ich mir unter verschiedenen Phantasie-Vornamen und meinem spannenden Nachnamen immer jeweils für vier Wochen gratis erschleiche) nicht zu verlängern... ; )

Gratis Abo, bleiben Sie dabei, einen gewissen Unterhaltungswert hat die Zeit ja, immerhin.

Und gegen Ende des Artikels, weshalb ich dieses Kilo (Alt-Klo-)Papier gekauft hatte die bahnbrechende Erkenntnis: „Als wichtigstes Mittel gegen Seelenpein in der Pandemie empfiehlt der Psychiater Patel deshalb: Geld. Etwas feiner ausgedrückt: die finanzielle Unterstützung der wirtschaftlich Schwachen.“ Super! Da wäre ich ja nie drauf gekommen! Also ehrlich, das ist es irgendwie immer mit diesem Blatt: der Erkenntnisgewinn ist doch eher gering, aber ich habe eine Menge Zeit totgeschlagen. Hat ja auch was.

Ja, die ZEIT ist immer so dick, da lässt sich Einiges mit erschlagen.

Ein Bekannter behauptete mal, sie sei die einzige Zeitung, bei der die Autoren nicht zu Kürzungen angehalten würden, sondern im Gegenteil dazu, ihre Artikel noch weiter aufzublähen. Könnte stimmen...
senf dazu
 
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