Eben lese ich im Feuilleton der SZ den Nachruf auf den kürzlich hundertjährig verstorbenen Claude Lévi-Strauss, in dem es u.a. heißt:
Mitte der Dreißiger brach Claude Lévi-Strauss auf seine Expedition in den brasilianischen Dschungel auf, eine Fahrt, die durchaus auch politisch motiviert war, denn in Europa war das Klima von totalitären, judenfeindlichen Parolen und Aktionen bestimmt. Was Lévi-Strauss in den folgenden Jahren beobachtete und erlebte, gestaltete er 1950 in dem Buch "Traurige Tropen".
(Ein auch von mir zu Anfang meines Studiums übrigens mit großem Gewinn gelesenes und daher hiermit wärmstens empfohlenes Buch!)
Auf der gleichen Seite (11; leider nicht online) findet sich dann ein Artikel über Hannah Arendt, "Die Anwälte des absoluten Bösen", in dem es u.a. heißt:
Die Diagnose, die Ron Rosenbaum dann mit Bernard Wasserstein stellt, lautet auf jüdischen Antisemitismus - und das gab mir wieder einmal Gelegenheit, über die exzeptionelle Stellung nachzudenken, die die mosaische Glaubensgemeinschaft in Geschichte und Gegenwart einnimmt und auch beansprucht.
Antisemitismus ist ja nicht nur ein Vorwurf, den z.B. der Zentralrat der Juden in Deutschland oft (und manchmal vielleicht auch etwas vorschnell, etwa anlässlich moderater Kritik an der offiziellen Politik des Staates Israel) erhebt (oft verbunden mit der Beschuldigung "Verhöhnung der Opfer der Shoah"); auch jüdischer Antisemitismus scheint ja allerorten zu grassieren, wenn man z.B. dem begnadet-beknackten Selbstdarsteller Henryk M. Broder Glauben schenken kann.
Und der 1933 aus Deutschland emigrierten und 1937 ausgebürgerten Jüdin Hannah Arendt jüdischen Antisemitismus nachweisen zu wollen - ist dies nicht am Ende selber wieder jüdischer Antisemitismus seitens der Herren Rosenbaum(!) und Wasserstein(!!)?
Das erinnert mich vage an einen angeblich jüdischen Witz: Ein Rabbi sucht in einer ihm fremden Stadt den richtigen Weg und fragt verschiedene Passanten nach ihrer Meinung über die Juden. Erst als ihm der Vierte oder Fünfte offen seine diesbezügliche Abneigung kundtut, ruft der Rabbi aus: "Masel tov - sie sind a ehrlicher Mensch! Sagen's: wo geht's hier zur Dizengoffstraße?"
Ist es also am Ende ganz in Ordnung, ein bekennender (wenn auch nicht handelnder) Antisemit zu sein?
Diesbezüglich fällt mir ein, wie ein Freund von mir einmal sehr freimütig und etwas kokett zu Protokoll gab (nämlich im Interview mit unserer linken Stattzeitung), "er sei aufgrund seiner polnischen Herkunft nun einmal Antisemit" (was aber natürlich gar nicht stimmte).
Und weiterhin erinnert mich das daran, wie ich im Oktober 1992 in Leszno/Polen meine Stelle als Dozent in einer Hochschule für Lehrerausbildung im Fach "Sprachpraxis Deutsch" antrat und in meinem jugendlichen (25jährigen) Leichtsinn und meiner relativen Unkenntnis der polnischen Kultur in meiner ersten Unterrichtsstunde in einer Klasse des zweiten Studienjahres den kurzen (eine knappe Seite langen) und einzigen Artikel zum Thema "Polen" aus dem damals aktuellen Spiegel lesen ließ, in dem es um zwei Rabbis (einen in Polen verbliebenen und einen in die USA ausgewanderten) ging, die sich um das in nachsozialistischer Zeit lukrativ gewordene Monopol stritten, sogenannten "koscheren Wódka" ("Koszerna" - ein legendäres, angeblich keinen Kater verursachendes Gesöff) zu zertifizieren, und der in der Feststellung endete, die beiden sollten sich nicht so unwürdig in aller Öffentlichkeit bekabbeln, denn Polen sei "schon antisemitisch genug!"
Als ich dann zur Diskussion des eben Gelesenen aufrief, erntete ich viele Minuten langes, lähmendes Schweigen, bis ich leicht entzürnt anordnete, die Abschlussthese schriftlich zu erörtern.
Was ich dann zu Hause zu lesen bekam, machte mich dann doch einigermaßen erschrocken - die ziemlich unisone Meinung der Studierenden (immerhin alle schon um die 20 Jahre alt und mit hochschulqualifizierendem Abschluss) ließ sich in der Sentenz zusammenfassen: "Die Juden haben doch selber Schuld, dass sie keiner mag!"
Da verspürte ich einen pädagogischen Auftrag, und die nächsten Sitzungen nahm ich - mit wahrlich bescheidenstem Erfolg - die Kurzgeschichte „Das Judenauto“ von Franz Fühmann durch, in der die Mechanismen des Judenhasses exemplarisch dargestellt werden.
Als ich am Ende des Semesters die selbe Gruppe ihre Wünsche bezüglich kommender Unterrichtsinhalte einzureichen bat, war der Tenor so: "Alles ist gut, bloß von Juden haben wir schon die Nase voll!"
So scheiterte damals meine Bemühung, den Antisemitismus qua Aufklärung zumindest etwas zurückzudrängen, aufs Kläglichste...
Ist das Buch wirklich gut? Dann sollt ichs mir mir vielleicht auch mal zu Gemüte ziehn. Bis jetzt hat mich Lévi-Strauss immer n bisschen abgeschreckt. Vielleicht aufgrund schlecht gehaltener Referate über seine Thesen...
Sehr schöner Blogeintrag übrigens ;)
Alfred Döblin: Reise in Polen
Joseph Roth: Juden auf Wanderschaft
Harry Graf Kessler: Tagebuch, 1914 - 1917
@chat: Ebenfalls Dank für die Lektüretipps - werde sie bei meinem nächsten Büchereibesuch berücksichtigen : )
➥ Zur Petition Weiterentwicklung: Demokratie
➥ Das Prinzip Permanentes Plebiszit
We were all just hanging around waiting to die and meanwhile doing little things to fill the space.
Charles Bukowski