Ente am Ende
Von wegen "Linker Antisemitismus"
Mittwoch, 15. Juni 2011, 11:01

Dass die Linke als Gefahr für die kapitalistische bzw. imperialistische Weltordnung angesehen und daher systematisch medial bekämpft (und dabei abwechselnd totgeschwiegen, lächerlich gemacht oder dämonisiert) wird, ist nun wahrlich nichts Neues. Leider scheint dieses Phänomen aber seit einiger Zeit Wirkung zu zeigen, da die Zustimmung zur PDL nicht nur in Umfragen und bei Wahlen stagniert oder gar rückläufig ist, sondern es intern immer öfter zu grundsätzlichen Verwerfungen kommt, meist zwischen (wie es bei den Grünen früher hieß) "Realos" (nach meinem Verständnis Leute, die für ein klein wenig Regierungsbeteiligung bereit wären, über fast jedes von den Rechten hochgehaltene Stöckchen zu springen; etwa die Fraktion "Forum Demokratischer Sozialismus") und "Fundis" (Linke, die für ihre Grundsätze im Zweifelsfall auch in der Opposition zu bleiben bereit sind; z.B. die "Kommunistische Plattform", der ich mich nebenbei erwähnt auch zurechnen würde).
Ein Beispiel für solche Selbstzerfleischung war Anfang des Jahres die Debatte um das sogenannte "K-Wort", die in übler Hetzmanier (aus dem Zusammenhang gerissene und schlichtweg erlogene Äußerungen usw.) von einigen rechten Kampfblättern geführt wurde und in dessen Rahmen sich einige "Linke" vom rechten Flügel tatsächlich genötigt fühlten, sich vom "Kommunismus" und damit Marx lossagen zu müssen...
Ein weiteres trauriges Beispiel ist die vom Zaun gebrochene Debatte über angeblichen Antisemitismus in der PDL, der leider einen höchst unglücklichen Maulkorb-Beschluss nach sich zog, der jetzt (meines Erachtens zu recht) innerparteilich scharf kritisiert wird.
Es sollte für eine internationalistische Partei selbstverständlich sein, dass in ihr "völkische" und rassistische Positionen keinen Platz haben. Ebenso selbstverständlich sollte es sein, dass legitime Kritik an der Politik der israelischen Regierung sich nicht gegen das "Volk" (oder die "Rasse" oder die Religionsgemeinschaft) der Juden richtet (wie es höchstens irgendwelche restlos verbohrte oder bösartige "Antideutsche" immer wieder behaupten).
Ob es dabei hilfreich ist, zum Boykott israelischer Waren aufzurufen, wie es wohl im Bremer Landesverband getan wurde, darf natürlich erheblich bezweifelt werden (immerhin richteten sich aber ähnliche Boykottaufrufe gegen das vormalige Apartheids-Regime in Südafrika auch nicht gegen die - "weiße" oder "schwarze" - Bevölkerung, sondern gegen die damalige menschenverachtende Regierungspolitik); solches Engagement für die Sache der unterdrückten und ghettoisierten Palästinenser mit der Nazi-Kampagne "Kauft nicht bei Juden" gleichzusetzen (wie vielerorts geschehen) ist allerdings schlichtweg perfide und nicht hinnehmbar.
Wenn wir Linken anfingen, den Kakao, durch den sie uns ziehen, auch noch selbst zu trinken, dann könnten wir uns auch gleich ganz auflösen und bei den (Oliv-)Grünen oder Spezialdemokraten mitmachen.

senf dazu



cassandra_mmviii, 2011.06.15, 16:23
Ich sehe doch recht deutliche Unterschiede zwischen Südafrika zur Apartheitszeit und Israel. Immerhin haben auch israelische Araber die israelische Staatsangehörigkeit und nehmen, im Gegensatz zu Nicht-Weissen in Südafrika, an den Staatsgeschäften teil wie andere auch.

Das ganze ist seit mir die Parallelen zwischen den Ostvertriebenen und den Palästinensern aufgefallen ist, so was wie mein Lieblingsthema.

Naja, immerhin hat der Gaza-Streifen einige Ähnlichkeit mit einem "Homeland"...
Ich wollte die beiden Staaten aber auch nicht unbedingt gleichsetzen, sondern vor allem darauf hinaus, dass ein Warenboykott (z.B. "Kauft keine Früchte aus Südafrika") sich nicht gegen die Bevölkerung richtet, sondern gegen die Regierung.

Und der Vergleich von Schlesien- und Sudetendeutschen mit Palästinensern, den ich kürzlich auch bei Bodo Ramelow lesen musste, hinkt doch wohl ganz gewaltig - oder ging im Namen Letzterer der Vertreibung etwa auch ein Vernichtungskrieg gegen die Nachbarvölker voraus?
Es wäre historisch allerdings gerechter und wünschenswerter gewesen, die überlebenden Juden hätten sich in den annektierten deutschen "Ostgebieten" niederlassen können als im Nahen Osten.


Wäre ja schön, wenn man einen Staat boykottieren könnte und die Bevölkerung damit nicht trifft. Funzt aber nicht.

"Und der Vergleich von Schlesien- und Sudetendeutschen mit Palästinensern, den ich kürzlich auch bei Bodo Ramelow lesen musste, hinkt doch wohl ganz gewaltig - oder ging im Namen Letzterer der Vertreibung etwa auch ein Vernichtungskrieg gegen die Nachbarvölker voraus?"

Im Prinzip schon. 1948 begannen die Nachbarländer einen Krieg mit dem erklärten Ziel, den neuen Staat zu vernichten.

Die Frage nach einem Palästinenserstaat kommt erst in den 1970ern auf. Vorher hätte Jordanien ja alle Möglichkeiten gehabt, einen solchen zu gründen.


"Es wäre historisch allerdings gerechter und wünschenswerter gewesen, die überlebenden Juden hätten sich in den annektierten deutschen "Ostgebieten" niederlassen können als im Nahen Osten"

Nu' erklär mal einem aus Griechenland nach Auschwitz Deportiertem, warum er in Schlesien wohnen wollen soll.

Im Prinzip schon. 1948 begannen die Nachbarländer einen Krieg mit dem erklärten Ziel, den neuen Staat zu vernichten.

Eben - da waren Ursache und Wirkung eben genau andersherum als bei den "Ostgebieten".

Nu' erklär mal einem aus Griechenland nach Auschwitz Deportiertem, warum er in Schlesien wohnen wollen soll.

Ungefähr aus dem gleichen Grunde, warum er - oder auch ein aus Böhmen oder Galizien Deportierter - in der Wüste wohnen wollen sollte.

"immerhin hat der Gaza-Streifen einige Ähnlichkeit mit einem "Homeland"..."

Strom muss von Israel geliefert werden (zahlt der Gaza-Streifen dafür eigentlich?), Arbeitsplätze nur jenseits der "Grenze"... ideale Vorraussetzungen für die eigene Staatlichkeit.
Dann ma' tau!

"da waren Ursache und Wirkung eben genau andersherum als bei den "Ostgebieten"


Hä?

Staat A greift Staat B an, Staat A verliert. Die Bürger von Staat A müssen/wollen (Unterschied zwischen Flüchtlingen und Vertriebenen) aus ihrem Gebiet in das verbleibende Staatsgebiet.

Sieht mir in beiden Fällen nach diesem Muster aus.

"Ungefähr aus dem gleichen Grunde, warum er - oder auch ein aus Böhmen oder Galizien Deportierter - in der Wüste wohnen wollen sollte"

Es gab auch schon der Einwanderung von Überlebenden jüdische Siedlungen in britischen Mandatsgebiet.
Und nicht alle Überlebenden wanderten nach Israel aus.

Es ist so verdammt einfach, Varianten des "Madagaskar-Plans" vorzuschlagen. "Da will eh keiner wohnen, schicken wir doch die Holocaust-Überlebenden da hin".

Die Balfour-Deklaration ist von 1917, da dachte wirklich noch niemand an den Holocaust.
Dass das britische Kolonialreich zerfallen ist und deswegen diese "nationale Heimstätte" nicht unter dem Schutz der Krone steht... das mag ein beliebiger englischer Herrenclub nach dem 15. Portwein bedauern, aber ich kann es nicht so recht.

Ursache und Wirkung: die Palästinenser wurden erst besetzt und z.T. vertrieben und haben dann erst Krieg geführt. Bei den Deutschen in den Ostgebieten war es umgekehrt.
Dass die zionistische Bewegung selber (im ursprünglichen, nicht im heute gebräuchlichen Sinne) antisemitisch war, nämlich gegen die Araber in "Erez Israel" gerichtet, und (letztlich ähnlich wie die Nazis) die Entfernung der Juden von Europa zum Ziel hatte, steht noch einmal auf einem ganz anderen Blatt bzw. steckt in einem ganz anderen Fass, dass ich hier lieber gar nicht erst aufmachen will ; )


Die Palästinenner gab es vor den 1970ern nicht. Das, was heute besetztes Westjordanland ist, war damals Jordanien.

Und Jordanien hat sich am Angriffskrieg 1948 beteiligt.


"und (letztlich ähnlich wie die Nazis) die Entfernung der Juden von Europa zum Ziel hatte"
Aua. Einfach nur nein. Das stimmt ja weder vorne noch hinten und in der Mitte auch nicht.

Die Entschiedung zur Auswanderung war immer individuell. Das angesichts des Antisemitimus das Leben woanders verlockender war als im stedl zu bleiben... wer kann das verdenken

Gut, "Entfernung" ist vielleicht nicht ganz das passende Wort. Aber es ging schon darum, nicht mehr für die Emanzipation zu kämpfen (was angesichts des allgegenwärtigen Antijudaismus in Europa durchaus verständlich ist), sondern abzuwandern - und das hätte sich im Ergebnis nicht allzu sehr vom Hitlerschen Madagaskar-Plan unterschieden.

Ob und in welchem Grade die Palästinenser eigentlich "Jordanier" seien (und nur in dieser Hinsicht ist vielleicht der Vergleich mit den deutschsprachigen Flüchtlingen und Vertriebenen nach 1945 gerechtfertigt, die wohl bei ihren "Brüdern und Schwestern" ebenso lästig empfunden wurden wie die Israelflüchtlinge in Jordanien), ist in dieser Frage doch nicht entscheidend; jedenfalls wurden sie nach 1945 mit einer rapide wachsenden Gruppe von Kolonisten konfrontiert (die natürlich nicht alle ganz freiwillig kamen) und letztendlich von diesen unterdrückt und/oder verdrängt.


Wer hat denn die "Kolonisten" nach 1945 gezwungen zu kommen?

Und wenn das mit dem "die Kolonisten kommen und verdrängen" stimmt, dann kann die Konsequenz nur "Grenzen zu" heissen, und dafür habe ich mir 1993 in Bonn dann keinen Sonnenbrand geholt.
Und wieder steht man vor der Wand.


Fakt ist:
Nach dem Zerfall Ende des WKII fiel der UN die Aufgabe zu, die Staaten im Nahen Osten neu zu ordnen. Das war durch den Zerfall des britischen Kolonialreiches, das als Mandatsträger des Völkerbundes fungierte, nötig geworden. Jordanien war bis 1946 ebenfalls Teil des britischen Empire.

Die UN teilte. Und als nächsten griffen Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien, Libanon, Irak und Syrien an mit dem erklärten Ziel, den neuen Staat auszulöschen.

Sie verloren. Das kann ja wohl kaum einer traurig finden.


Und wenn ich die Rhetorik der Hamas höre, würde ich mich als Israeli auch deutlichst sicherer fühlen wenn die bitte keinen Sprengstoff mehr bekommen.

Wie wäre es denn mit einem Hamas-Boykott? Immerhin haben die und ihre Bombenstimmung ja erst dafür gesorgt, dass derGaza-Streifen abgeriegelt wurde.

Hamas-Boykott - warum nicht? Ich wüsste allerdings nicht, dass die nennenswerte Mengen an Waren auf internationale Märkte exportiert (von Palitüchern kūfiyyāt vielleicht einmal abgesehen)...
Dass die Hamas ebensowenig mit den Palästinensern gleichzusetzen ist wie die israelische Regierung mit den Israelis (oder gar "den Juden") insgesamt - darauf wenigstens könnten wir uns doch vielleicht einigen...?

Nein, die Hamas sind auf keinen Fall gleich zusetzen mit "den Palästinensern".
Aber dummerweise so was wie die Regierung da.


Boykottmöglichkeiten:
wenn ich mich richtig an Südafrika erinnere, wurden keine Waren importiert. Der Gaza-Streifen ist nicht gar so die Export-Nation, also kann man das wohl vergessen.

Aber die Einstellung aller diplomatischen Kontakte ginge ja.
Oder ein Tourismus-Boykott. Und das hiesse auch keine weiteren Passagen mit Gaza-Flotten.

Aber ging es bei der hochumstrittenen Gaza-Flotte nicht auch (zumindest offiziell) darum, dringend benötigte (u.a. medizinische, glaube ich) Hilfsgüter für die eingepferchte und unterversorgte Bevölkerung zu importieren?
Ein solches Anliegen würde ich ungern boykottieren...


Dann sollte man mindesten zusehen, dass die Hamas ihre Pfoten nicht dranlegt, sondern das an eine international anerkannte Hilfsorganisation übergeben, die dann die Verteilung übernimmt, so wie das bei Regimen, denen man nicht traut, ja üblich ist.

Und so schrecklich dringend kann das ja alles nicht gewesen sein, sonst hätte die Fracht wohl kaum tagelang ungekühlt in Ashkedod auf dem Kai rumgestanden weil die Hamas sich geweigert hat das Zeug anzunehmen nach der Grenzkontrolle wegen der Grenzkontrolle. Und Grenzkontrollen sind so was wie internationalerStandart-ich musste letztens ein Päckchen aus den USA auf dem Zollamt öffnen, da kann man wohl kaum wegen den Aufstand proben.

Ein paar Tage Mittelmeersonne ist keine so gute Idee bei Medis, aber wenn das Zeug eh abgelaufen ist macht das wohl nicht mehr viel. Und das soll ja zumindest ein Teil gewesen sein.

Die Isrealis waren bereit, die "Hilfsgüter" durchzulassen nachdem sie zollkontrolliert gewesen sind. Das wollte die Hamas aber lieber nicht.
Und ich frage mich,warum man sich so um die Unterversorgung im Gaza-Streifen sorgt, die Unterversorgung auf Haiti aber papenegal ist. Oder die Unterversorgung des Teils der Bevölkerung, die sich in Jordanien keinen Arzt leisten können. Da ist nämlich jeder ein Privatpatient...

Im Gaza-Streifen gibt es fast alles- wenn man genug Geld hat. Das nenne ich Raubtierkapitalismus und die Hamas wirkt erst mal nicht so als wolle sie dagegen Massnahmen ergreifen.
senf dazu
 

vert, 2011.06.16, 23:31
na klar. alles eine verschwörung. interessanterweise habe ich davon ausschließlich durch mitglieder der l-partei zur kenntnis bekommen, die das kontrovers diskutieren. die "studie" mag schwach sein, das problem ist deswegen trotdem da.

wenn das meine partei wäre, würde ich mich mal hübsch ne zeitlang mit kritik und selbstkritik beschäftigen. das können sie doch bestimmt noch, traditionsgestählt wie es hier immer tönt...

Selbstkritik ist eine feine Sache und mir selber, wie ich glaube, auch nicht völlig fremd. Allgemein wird bei den Linken auch mit Kritik an den "Genossinnen und Genossen" meist nicht gespart. Ich sehe hier nur das Problem, dass (befeuert durch eine entsprechende Pressekampagne) legitime außenpolitische Diskussionen mit dem Totschlagargument "Antisemitismus" offenbar abgewürgt werden sollen, und dies in wenig demokratischen Stil...
Dass es in den Reihen der Linken die einen oder anderen (und sogar noch viel mehr) Wirrköpfe gibt, will ich gar nicht bestreiten. Antisemiten und überhaupt Rassisten sowie Nationalisten, Sexisten, Homophobiker usw. (oder wie immer wir Leute bezeichnen wollen, die nicht an das Desiderat der Gleichberechtigung aller Menschen glauben), wären in einer linken Partei allerdings fehl am Platze (und würden das wohl auch schnell selber merken).
Allgemein ist das Thema Israel allerdings ein Minenfeld, bei dem ich mir jetzt schon wieder wünsche, ich hätte mich nicht allzu weit hineingewagt...

senf dazu
 

txxx666, 2011.06.21, 20:51

Ein ziemlich ausführlicher (und erfrischend parteiischer) Artikel zur Problematik "antideutscher" Positionen innerhalb der Linken findet sich hier: Die LINKE – Von innen umzingelt

senf dazu
 
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