Fragment eines Kriminalromans
- auch eine Hommage
Prolog: "Die Nächste bitte!"
Angeödet ließ Rüdiger Brasche, oder Doktor Rüdiger Brasche, wie er sich gern nennen hörte, die Flasche Doppelkorn, aus der er sich soeben einen herzhaften Schluck gegönnt hatte, wieder in der Schreibtischschublade verschwinden. Bewerbungsgespräche waren ihm zuwider. Für den Leiter des Altenpflegezentrums, das unter Kennern als das mit Abstand Schlechteste der ganzen Stadt galt, waren die Kandidatinnen meist von ihrer ganzen Art her eine schier unerträgliche Strapaze. So wie die, die sich gerade vorgestellt hatte: unattraktiv (ach was: potthässlich!), dazu doof wie Brot und dann auch noch diese penetrante Stimme - das ließ sich doch nüchtern gar nicht ertragen. Gut, dass er immer ein paar Liter Nerventröster in Reichweite hatte, die er an verschiedenen Orten seines Arbeitsplatzes gut versteckt - so glaubte er - unterzubringen pflegte.
Nun gut, hier also noch eine - die letzte für heute, immerhin. Auch nicht gerade eine Augenweide - bisschen zuviel Fleisch auf den Rippen, naja, das war in dem Beruf eher von Vorteil, aber diese schmucklose Frisur, die unvorteilhafte Brille - am liebsten wäre Brasche nochmal hinter seinen Schreibtisch getaucht, so unangenehm war ihm in diesem Augenblick das ganze Elend menschlichen Daseins im allgemeinen, und seines ganz besonders. Statt dessen ermannte er sich und sprach mit mühsam freundlicher (und erstaunlich wenig verwaschener) Stimme: "Ja, guten Morgen, Frau Fucks. Nehmen Sie bitte Platz. Wenn ich Ihnen zunächst ein paar Fragen zur Person stellen dürfte..." Er zog das Blatt mit dem Lebenslauf näher zu sich heran und begann vorzulesen: "Sie heißen also Samantha - Samantha Fucks!" Hier stockte er kurz. Sah die Bewerberin an, blickte wieder auf das Blatt vor ihm, ein Melodiefetzen ging ihm durch den Kopf - Touch me! Touch me now! - er unterdrückte ein aufsteigendes Kichern und räusperte sich stattdessen. "Wie spricht sich das aus? Samanta, oder Zementa...?"
"Samanta, bitte!", sagte Samantha und verfluchte innerlich zum abermillionsten Male ihren Vater, dessen schrägem Musikgeschmack und unseligem Sinn für Humor sie diesen Namen verdankte. Wie satt sie diese ganzen dämliche Sprüche, Anspielungen, Songzitate hatte, die seit 20 Lebensjahren unaufhörlich auf sie einprasselten - auch dieser ungesund aussehende Typ, dem hier in den Arsch zu kriechen sie wohl nicht umhinkonnte, würde bestimmt gleich irgendwas Dämliches in diese Richtung von sich geben. Ja, ja - I want to feel your body, haha. Wie sie diese ganze Scheiße hasste! Sie hatte sich schon erkundigt, ob sie ihren Namen wegen "seelischer Grausamkeit" oder wie immer das hieß, ändern lassen könnte, war aber abschlägig beschieden worden... nun gut, an die Kurzform "Säm" oder "Sämmi" (mit scharfem S) hatte sie sich gewöhnt; wenn es aber jemand wagen sollte, sie "Mändi" zu nennen oder gar "Manta" (oder "Foxy Lady" oder "Fax" oder...), dann konnte sie sehr, sehr unfreundlich werden. Und so war sie im Laufe der Zeit und in dem Maße, in dem die Gleichaltrigen immer enger zu sogenannten Cliquen verschmolzen, zu einer Art Außenseiterin geworden, was ihr aber - so sagte sie es sich selbst und allen, die es womöglich wissen wollten - gar nichts weiter ausmachte, im Gegenteil. Ihre eigene Generation verachtete sie ohnehin als im höchsten Maße oberflächlich, ungebildet und herzlos; ihre Sympathien gehörten den Älteren, den wesentlich Älteren, um genau zu sein, etwa der Generation ihres Vaters, den sie (trotz des grausamen Scherzes, der ihr Leben überschattete, und seiner zunehmenden Wunderlichkeit - oder gerade deswegen?) inniglich liebte. Und so kam es auch, dass sie sich für die Ausbildung zur Altenpflegerin entschieden hatte und nun hier stand und sich für ihre erste "richtige" Stelle bewarb.
"Und, ähem - Fucks mit U ist schon richtig ausgesprochen, ja? Nicht irgendwie englisch?", konnte sich Brasche nicht verkneifen zu fragen, wobei ihm unwillkürlich ein etwas zu breites Lächeln aufs Gesicht geriet. Das war ja aber auch zu köstlich! Wenn die Arme auch beileibe nicht die imposante Oberweite ihrer berühmten Fast-Namensvetterin hatte - er würde sie einstellen! Immerhin hatte sie durch die kurzfristige Anhebung seiner Laune wenigstens einen Pluspunkt verbuchen können, und ihre Zeugnisse sahen ja auch nicht schlecht aus. Auch da ihn wieder ein kleines Bedürfnis nach geistvoller Unterhaltung (wie er es im Stillen nannte) überkam, kürzte er die ganze Prozedur radikal ab und meinte: "Also, Frau Fucks - sie haben die Stelle!"
(wird ganz eventuell noch fortgesetzt)
Die Firma dankt - ist allerdings schon dreieinhalb Jahre alt, und die reale Vorlage von Frau Fucks habe ich leider(?) mittlerweile aus den Augen verloren.
➥ Zur Petition Weiterentwicklung: Demokratie
➥ Das Prinzip Permanentes Plebiszit
We were all just hanging around waiting to die and meanwhile doing little things to fill the space.
Charles Bukowski