So kann's gehen: Da bewundert man in Belgrad die Schönheiten der Stadt und die sympathische Gelassenheit ihrer Bewohner, und derweil bricht in England der Bürgerkrieg aus - nicht wirklich unerwartet allerdings, denn die Krawalle in London und anderswo sind ja nur die logische Konsequenz des auf die Spitze getriebenen Kapitalismus, sprich: der Ausbeutung fast Aller durch eine kleine, scham- und skrupellose Minderheit.
Erstaunlich ist allenfalls, dass sich die Plünderungen und Brand-schatzungen (noch) nicht systematisch gegen die Repräsentationen dieses menschenverachtenden Systems (Banken, Börsen, Broker usw.) richten...
Auf mich wirkt das Plündern von Nachbarschaftsläden nicht wirklich systemkritisch.
Polemisch gesagt: die wollen Flachbildfernseher, keine Aktien.
Und dass die Leute keine Aktien wollen, ist doch eigentlich ein gutes Zeichen.
Da Ganze in merry old England scheint mir eher durch "haben wollen" als die eine Reflektion über seine Lage ausgelöst.
Einfach nur plündern ist keine Revolution.
Und was die Spekulanten betrifft: die machen ja im Moment ihren Reibach, indem sie auf fallende Kurse (bzw. gegen hochverschuldete Staaten) wetten und damit (wie schon immer) aus der Verarmung und Verelendung der Massen ihre unerhörten Gewinne ziehen.
Heute verlangen die Massen aber nicht nach fish'n'chips, sondern nach Unterhaltungselektronic. Und wenn die da ist, egal ob via plündern oder käuflich erworben, bleiben die auch wieder zu Hause.
Das eigene Stadtviertel anzuzünden ist kein Ausdruck von politischer Willensbildung.
1. sich zuwenig mit Geschichte beschäftigt haben
2. das falsche Zeug klauen
3. die Vorschriften zur bildungsbürgerlichen Revolution des 21. Jahrhunderts nicht gelesen haben
Wie macht man sowas denn korrekt? "Du kannst mich gerne ausplündern und umbringen, aber doch bitte aus anderen Motiven."
Der kapitalistische Marodeur, der ist tatsächlich schlauer, der ruiniert anderer Leute Stadtviertel, nicht das eigene.
Das ist in der Tat schlauer.
Ich sehe nur nicht die Weltrevolution ausbrechen weil Flachbildschirme geklaut werden.
Langfristig kann sich eine Gesellschaft nicht halten, die einen so großen Abstand zwischen den ganz Reichen und den ganz Armen erlaubt. Zumindest nicht, wenn es sich um eine entwickelte Industriegesellschaft handelt, in der es einen regen Informationsaustausch gibt.
In UK gibt es europaweit die höchste Rate an Teenager-Müttern ohne Schulabschluss und Berufsausbildung.
Das britische Sozialsystem kennt das Recht einer jeden Frau, sobald sie ein Kind erwartet, einen eigenen Haushalt zu gründen.
Könnte es da einen Zusammehang geben? Ich möchte wohlgenerkt nicht für die sofortige Anschaffung dieses Rechtes plädieren.
Iszt der Abstand denn so gross in UK? Ja, es gibt da Leute mit abstrusen Reichtümern. Aber wie sieht es denn auf der anderen Seite der Leiter aus? Ich bin weit entfernt davon, Expertin für das englische Armenrecht nach 1911 zu sein (vorher kenne ich mich wesentlich besser aus), aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es dort Schulen gibt, die man auch besuchen kann ohne zu zahlen. Warum brechen also auch in UK massiv junge Leute ihre Ausbildung, die ihnen, so sie denn abgeschlossen ist, durchaus ermöglichen würde, am System (sowie es ist) teilzuhaben, ab? Und wäre das besser wenn sie 50 Pfund pro Woche mehr hätten?
Was wäre besser wenn jeder Randalierer 50 Pfund pro Woche mehr hätte?
Ich empfehle noch einen weiteren Artikel (aus der SZ) zur Lektüre, in dem es u.a. heißt:
In keinem anderen europäischen Staat ist die Ungleichheit derart zementiert wie im Königreich. Nach wie vor zählen Name, Familie und Geburtsort für Karriere und Beruf. Egal ob Politiker, Manager, Journalisten - sie gingen auf dieselben Schulen, studierten dieselben Fächer, sprechen dasselbe gepflegte Englisch, das ihnen im Elternhaus vermittelt wurde.
(...)
Zugleich aber gibt es Stadtteile in London und anderswo, in denen Lebenserwartung und Kindersterblichkeit Drittwelt-Niveau haben. Etwa 13 Prozent aller britischen Kinder leben in "ernster Armut", wie es ein regierungsamtlicher Bericht formulierte. Und eine Frage der Hautfarbe ist das längst nicht mehr: Britanniens Armut ist braun, schwarz oder weiß.
Ein paar Pfund mehr die Woche würden da evtl. tatsächlich mehr helfen als neue repressive Polizeibefugnisse oder gar der Einsatz der Armee, wie es Cameron jetzt vorhat; aber generell ist es wohl so, wie es der oben zitierte Philo-Prof formuliert: Langfristig hilft nur eine ganz andere Politik: eine Politik der Umverteilung, der gerechten Organisation von ökonomischen Strukturen.
Woran liegt die Armut in den Stadtvierteln mit Drittweltkindersterblichkeit? Was ist da anders als in Stadtvierteln, wo man zwar auch arm ist, aber deswegen nicht aufgegeben hat?
Aber wie es aussieht, werden die Nicht-ganz-so-Armen jetzt dazu instrumentalisiert, den Aufständischen auch noch die letzten Sozialhilfen zu streichen, nach der alten Devise divida et impera. Da sind die nächsten "kriminellen Unruhen" natürlich vorprogrammiert, und England ist auf dem schlechtesten Weg in einen Polizei- und Überwachungsstaat orwellschen Ausmaßes.
Ich hab gerade it einem Bekannten aus London gemailt. Der ist überhaupt not amused. Seine Familie hatte zwischendurch ernsthaft Angst um ihr Leben. Die wohnen in einem ähnlichen Viertel und die Angst, das Haus über dem Kopf nacht angezündet zu bekommen, war nicht wirklich sympathiefördernd.
Der Punkt ist aber doch, dass solche ausufernden massenhaften Gewaltausbrüche ihre Ursachen immer in strukturellen und letztlich ökonomischen Ungerechtigkeiten haben, und dass sie deshalb nicht durch Repressionen verhindert werden können, sondern nur politisch.
Dazu gibt es auch ein m.E. lesenswertes Statement der FAU Düsseldorf...
Oder wenn die troubles in Nordirland mal wieder hochkochen. Was hierzulande übrigens untergegangen ist: die (P)IRA ist wieder wach.
In einem verantwortungsvollen Gemeinwesen gibt es dann vielleicht auch Nachbarn, Passanten etc, die einem potentiellen Brandstifter nett sagen "lass mal, wenn du Frust hast, geh doch lieber einen saufen oder 'ne Runde laufen"
Ich weiss nicht, ob sich alle Gewaltätigketen ín einer hoffentlich bessren Gesellschaft erledigt hätten. ich weiss es nicht.
Als Kulturanthropologin muss ich feststellen, dass es eine Art kultureller Konstante ist, dass junge Männer zwischen 15 und 25 dazu neigen, sich in Ärger zu bringen. Hat vielleicht was mit Dampf-ablassen-müssen zu tun. Aber in einer gerechten Gesellschaft hat man dafür den Raum. Ohne das gleich ganze Stadtviertel in Trümmern liegen.
Und sich unter "consenting adults" oder auch Junghelden mal ausgiebigst zu prügeln macht auch noch keinen Weltuntergang. Ein Problem taucht auf, wenn Leute, die nicht mitmachen wollen, hineingezogen werden. Und das ist in London massivst passiert.
Ich denke, eine gewisse Grundaggressivität gehört zum Menschen dazu. Die Frage ist, wie man damit umgeht.
Ich bin für letzteres.
Was gegen Mobing schon mal helfen könnte ist, wenn weniger bis kein Druck, in einer Schule zu sein, auf jeden Fall einen Arbeitsplatz zu haben etc ausgeübt wird. Wer bleibt schon freiwillig, wenn er gemobbt wird?
➥ Zur Petition Weiterentwicklung: Demokratie
➥ Das Prinzip Permanentes Plebiszit
We were all just hanging around waiting to die and meanwhile doing little things to fill the space.
Charles Bukowski