Ente am Ende
Zweierlei Maß
Mittwoch, 2. März 2011, 08:37

Im gestrigen Freudentaumel über den längst überfälligen Rücktritt des (Frei-)Herrn zu Butterberg ist ein anderes Ereignis ja leider(?) völlig unter den Tisch gefallen: nämlich das ganz und gar unerträgliche deutschtümliche Geseiere der üblichen Verdächtigen über eine Äußerung des türkischen Ministerpräsidenten.
Sicherlich: mit Recep Tayyip Erdoğan hat am vergangenen Sonntag im ISS-Dome zu Düsseldorf ein Politiker seinen Wahlkampfauftritt absolviert, gegen den es viele gute Gründe gibt, zu protestieren (was dann z.B auch viele Kurden, die besonders viele solche Gründe haben, taten) – seine Aussage, dass türkische Kinder auch in Deutschland zuerst ihre Muttersprache lernen sollten, gehört aber gewiss nicht dazu, und den ganzen bigotten Heuchlern von Außenmini Westerwelle bis zu den Rechtsradikalen von ProNRW, die sich darüber medienwirksam empörten, möchte ich gerne folgendes simples Gedankenexperiment entgegenhalten:
Nehmen wir an, ein Pärchen aus Deutschland würde – aus welchem Grund auch immer – sein Heil in einem fremden Land suchen; vielleicht als Arbeitsemigranten im wohlhabenden Norwegen, als Wirtschaftsflüchtlinge im fernen Japan oder als Entwicklungs-helfer im armen Äthiopien (oder gar als Altertumsforscher in Anatolien); und diesem Paar in der Diaspora würde jetzt ein Kindelein geboren, und sie würden es aber nicht in der Sprache, die sie am Besten können und untereinander bislang immer ganz selbstverständlich gesprochen haben (nämlich Deutsch), aufziehen, sondern in (radebrecherischem) Norwegisch, Japanisch, Amharisch (oder sogar Türkisch) – wer würde sich da wohl als Erstes und am Meisten (und vielleicht sogar zu Recht) empören?
Richtig: die ganzen bigotten Heuchler von Außenmini Westerwelle bis zu den Rechtsradikalen von ProNRW!

senf dazu



cassandra_mmviii, 2011.03.02, 09:53
So vor ungefähr 5 Jahren überfiel mich eine Nachbarin im Treppenhaus. Sie fragte mich, ob ich nicht auch dafür sei, dass die Eltern von XY (Kind aus der Nachbarschaft) zu Hause Deutsch sprechen sollten.
Nu' ist mir völlig egal, wer was zu hause spricht. Mir fehlt dieser deutsche Drang, Menschen ihr Leben vorzuschreiben (übrigens auch in der Linken verbreitet) und ihr Privatleben zu überwachen. Genau das teilte ich der Nachbarin dann auch mit. Siewurde direkt aggrsssiv und erklärte, ich müsse auch mal an das Kind denken, das müsse doch deutsch lernen. Ich balancierte mein eigenes jetzt schon zu lange auf der Hüfte, in der Hand die Einkäufe. Trotzdem erklärte ich ihr, dass Kinder, die überhaupt irgendeine Sprache gelernt haben, im KiGa ganz fix Deutsch lernten (was momentaner Forschungsstand ist)und das es gut sei, wenn Kinder sich in einer Sprache ausdrücken lernten. Das sei weit besser als sie teletubbie-mässig verblöden zu lassen.
Und das die Eltern von XY nun mal Türken seien, und wenn ich mit meinem Kind nach England zöge, würden wir zu Hause auch weiter Deutsch sprechen.
Ihre Antwort: "das ist was anderes"

Das war zumindest ehrlich

Nun ja, ehrlich - aber eben genau dieser Nazi-Dünkel, den ich meinte...

Auftritte wie diese im Treppenhaus haben aber geholfen, die Fronten zu klären.

Cool war, als sie und unser völlig versoffener, dauerarbeitsloser (sorry...) und völlig verkrachter anderer Nachbar im Treppenhaus standen und sich über die damals noch rot-grüne Regierung aufregten "Das passiert, wenn man Kommunisten an die Macht lässt" zeterte sie und er stimmte zu: so was hätte es "früher" nicht gegeben.
Ich brach fast vor Lachen zusammen und sagte meinem geliebten Ehegatten: "hat er recht, so was wie ihn hätte es früher nicht gegeben!" und war mir nicht ganz sicher, ob ich jetzt die Internationale in Konzertlaustärke abspielen sollte oder lieber Waffenlieder der SS singen. Mein Gatte nahm mir die Entscheidung ab und es ertönte "Dem Morgenrot entgegen".
Tür auf, der Rahmen musste eh geputzt werden (wir sind schliesslich ein ordentliches Haus!) und den Refrain mitsingen. Die waren ganz fix weg aus dem Treppenhaus!

Das war auf alle Fälle die richtige Entscheidung : )
(Oder habt ihr sogar eine nicht-wadersche Version zum Besten gegeben?)

Vom Klang her würde ich sagen: Frühe DDR in Grosser Chorbesetzung. Wenn, dann bitte richtig!

Muss heute abend mal fragen, ob er das noch auf der Festplatte hat.

Besagte Nachbarn war auch irgendwann der Meinung, dass ich Jüdin sei.

Oje - da wird's gefährlich.
Am Ende hat die noch ne Dose Zyklon B in der Hinterhand...

Du kennst Kishons Definition eines Israelis?

Hab ich gerade nicht parat... ; )

Ein bißchen größer
ein bißchen kräftiger
ein bißchen blönder
ein bißchen gemeiner
als ein Deutscher!

Na, ob er das so ernst gemeint hat? : D

Wahrscheinlich nicht sooo ernst. Aber das Gesicht unserer Nachbarin war klasse, als ich ihr das sagte!

Den Kishon hab ich früher auch mit außerordentlichem Vergnügen gelesen - als ich noch zu klein war, um zu merken, dass zumindest seine politischen Glossen ziemlich reaktionär waren.

Ja, sind sie.
Aber seine Geschichten haben ungeheuer viel Wortwitz und nehmen Alltagssituationen klasse auf's Korn.

Wie soll man um Himmels willen reagieren, wenn die Nachbarn tuscheln, man sei wohl Jude? Ariernachweis beantragen? Erklärungen abgeben? Sie vermöbeln bis der Staatsanwalt kommt?

Ich wusste zum Schluss echt nicht mehr, was wir für unsere Nachbarn waren. Die einen hielten uns für Polen, die anderen für Kommunisten, die nächsten für Juden.... da war das gesamte Feindbild in einer Wohnung versammelt. Jüdische Kommis aus dem Osten...man hat es ja schon immer gewusst...
ts.

wg. Kishon: Das bleibt unbenommen.
Allein diese Geschichte von dem Mann, der allmählich ne Glatze kriegt und es nicht wahrhaben will ("Tagebuch eines Haarspalters" oder so... ; )

und wg. Jüdische Kommis aus dem Osten: viel Feind, viel Ehr...

Ich liebe die Geschichte eines Frühlingsputzes einfach. Es fängt mit Fegen an und endet mit Ärchäologen, die die Fundamante durchstöbern...
senf dazu
 

cassandra_mmviii, 2011.03.02, 15:09
Aber um noch mal zur Frage zurückzukehren:
was interessiert es, was ich zu Hause spreche?

Wir haben eine Familie in der Nachbarschaft: Papa Dr. der Chemie, Mama Informatikerin, 14jährige Tochter auf dem Gymnasium, der Lütte lernt gerade sprechen.
Klingt doch toll, oder?

Die sprechen zu Hause Englisch, weil sie aus Afrika kommen. Who cares? Als ich mal vor der Tür stand, hat Oma aufgemacht. Die sprach kein Deutsch. Machte nichts, ich wollte eh nur kurz was abgeben und ausserdem spreche ich Englisch (cooles Kompliment, wenn ge-small-talkt wird, dass das Wetter für mich doch gar nicht so schlimm sein könne, bei mir zu Hause würde es doch auch dauernd regnen...).

Alle Welt faselt was von bilinualer Erziehung...und machen das mal Leute, ist es auch falsch.

was zuhaus gesprochen wird, geht keinen was an, wahrlich. allerdings ist es auch ein problem, wenn ein kind erst in der grundschule etwas deutsch lernt und ansonsten in der "parallelgesellschaft" nur "heimatsprache" hört/spricht...
auch wenn das problem nicht einfach zu lösen ist, es existiert.

Sicherlich, und eventuell wäre es in diesem Zusammenhang vielleicht sogar sinnvoll, der Schulpflicht eine Art Kindergartenpflicht (etwa ab drei Jahren) an die Seite zu stellen... Dann müssten diese Kindergärten natürlich kostenfrei und flächendeckend existieren.

senf dazu
 

alphanumerial, 2011.03.04, 09:45
vielleicht ist es auch etwas anderes, weil die angesprochenen beispiele ja innerfamiliär sprechen was sie wollen, vor ort allerdings in der landessprache zu kommunizieren lernen, denn es ist wohl nicht eine halbe stadt in japan, die eine deutsche parallelgesellschaft bildet...
und in äthiopien ist sicherlich kein deutscher mettbrötchenhändler und pudelsalon

Nun ja - von Japan und Äthiopien weiß ich es ehrlich gesagt nicht so genau, aber dass die Deutschen einen Hang haben, sich zusammenzurotten und Parallelgesellschaften auszubilden, kennt man ja nicht nur aus dem Neckermann-Cluburlaub, sondern auch aus der Geschichte, wo z.B in Rumänien und Russland, in Nord- und Südamerika zahlreiche rein deutsche Gemeinden existierten, in denen dann auch jahrhundertelang nur Deutsch gesprochen wurde.

senf dazu
 
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