Anfang Juni 1993 – ich hatte gerade mein Schuljahr als Dozent für Sprachpraxis am NKJO (Fremdsprachenlehrerkolleg) in Leszno/Polen beendet – wurde in der (abgetauten) Eissporthalle von Solingen groß gefeiert: zwei kurdische Brüder heirateten, der Eine eine Türkin und gute Freundin meiner damaligen Ehefrau (deshalb war auch ich eingeladen), der Andere eine Polin (was mir die unerwartete Gelegenheit bescherte, meine frisch erworbenen rudimentären Polnischkenntnisse mit der Verwandtschaft der Braut bei etlichen Gläschen Wódka – sto gram – erproben zu können).
Als mein Schwager, einige andere Bekannte aus Düsseldorf und ich in der Absicht, unauffällig eine Spezialzigarette zu uns zu nehmen, ein paar Schritte durch die umliegende Innenstadt gingen, bemerkten wir einigermaßen beeindruckt, dass nahezu alle Fassaden und Fenster mit Brettern verrammelt waren; waren doch erst ein paar Tage zuvor (eben in der Nacht zum 29. Mai) Gürsün İnce (27), Hatice Genç (18), Gülüstan Öztürk (12), Hülya Genç (9) und Saime Genç (4) bei einem Brandanschlag zu Tode gekommen, was tagelange gewaltsame Ausschreitungen (u.a. der "Grauen Wölfe") zur Folge gehabt hatte.
Hülya Genç - Saime Genç - Hatice Genç - Gürsün İnce - Gülüstan Öztürk
Ich muss gestehen: der Stimmung auf der Doppelhochzeitsfeier schien dies keinen großen Abbruch zu tun.
Ein paar Monate später wurde ich nochmals persönlich mit dem Geschehen konfrontiert, als nämlich mein Alter (seines Zeichens Rechtsanwalt) uns (also v.a. meine türkische Gattin und mich, die wir einen damals erst einjährigen Sohn hatten) vorwarnte, dass er beabsichtige, die Verteidigung eines der dringend Tatverdächtigen, des 16jährigen Skinheads Felix K., zu übernehmen – mit der besonders bescheuerten Begründung, dessen Eltern seien (wie er ja früher einmal auch) bekennende Linke, und ich sei ja in meiner Pubertät ebenfalls ein missratenes Früchtchen und durchaus in Gefahr gewesen, "nach rechts abzudriften" (eine völlig abwegige Behauptung, die nur bewies, wie wenig Ahnung mein Herr Vater von Punk generell und meiner Person speziell gehabt hatte). Da er uns damit vor vollendete Tatsachen stellte, waren Einwände zwecklos.
Auf seine entsprechende Bitte hin habe ich mich dann (mittlerweile von meiner Frau getrennt) auch noch Ende 1995 in den Hochsicherheitsgerichtssaal im Düsseldorfer Norden zu seinem Schlussplädoyer hinbegeben, bei dem er (letztlich erfolglos) den Kaiserswerther Jesuiten und Hexenprozess-Gegner Friedrich Spee von Langenfeld zitierte, um auf die (nach wie vor bestehenden) Zweifel an der (Allein-)Schuld der vier jugendlichen Angeklagten aufmerksam zu machen; auch damals hatte übrigens schon ein dubioser Nazi-V-Mann des Verfassungsschutzes eine undurchsichtige Rolle gespielt.
Ich bitte um Verzeihung, dass dieser Rückblick so gänzlich unpolitisch und übertrieben persönlich/familiär/nostalgisch geraten ist...
Aber immerhin war ich (im Gegensatz zu BuKa Kohl) vor Ort.
Und die fadenscheinige "Begründung" finde ich auch im Nachhinein noch empörend.
➥ Zur Petition Weiterentwicklung: Demokratie
➥ Das Prinzip Permanentes Plebiszit
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Charles Bukowski