(ZEIT-Magazin Nr. 48/2021 vom 25.11.2021)
Möglicherweise ist es eine persönliche Alterserscheinung oder allgemein der schlimnmen Zeit geschuldet, in der wir leben (wahrscheinlich beides) - aber es fällt mir immer schwerer, die mich umgebende (und innerlich anfüllende) Ignoranz und Stupidität mit gebührender Gelassenheit und womöglich Heiterkeit hinzunehmen.
Als relativ wahlloses Beispiel soll mir hier die aktuelle Ausgabe des ZEIT-Magazins (in Folge kurz: ZM) dienen, die ich tatsächlich nur als Kompendium menschlicher Dummheit bezeichnen kann sowie als Paradebeispiel all der Ungereimtheiten, die uns als Menschheit nach aller Wahrscheinlichkeit zum baldigen Aussterben verurteilen werden.
Ich gehe Seite für Seite vor:
01: Titelblatt
02: Konsumpropaganda (in Folge kurz KP; vulgo "Werbeanzeige") für die Firma "Rolex"
03: 2. Titelblatt (eine Eigentümlichkeit des ZM)
04: KP "Amazon"
05: Inhaltsangabe + Cartoon + 1/3 KP "ZEIT Akademie"
06-07: KP "Chanel"
08: Kolumne von Harald Martenstein: Wie jede Woche amüsiert und mokiert sich dieser alte weiße gutbetuchte und über alle Maßen selbstverliebte Mann über Gendern, Cancel-Culture, Diversität und "Wokeness".
09: KP "Blancpain"
10: "Heiter bis glücklich": Kolumne mit den "Entdeckungen der Woche" (also wieder letztlich KP)
11: KP "Vardis"
12: "SELF-PORTRAIT WITH ME"; ein Selfie...
13: KP "Marmarvis"
14-26: "Hallo, Angst" (eine ziemlich private Selbstoptimierungs-Story über Panikattacken) + 2 x ¼ KP "Naturland"
27: KP "ARD Digital"
28-43: "Schönheit und Schmerz" (15 Fotoseiten + eine Textseite über Guadeloupe; i.e. Schleichwerbung für einen Fotografen und seinen neuesten Bildband)
44-45: "Bla bla bla" (über die Herkunft der Lautmalerei "Bla bla bla" und genauso relevant)
46-48 + 50-52: "Einer fehlt"; hier wird es für mich zum ersten Mal richtig ärgerlich (und daher ausführlicher). Eine Berliner Familie (der Vater "besitzt mehrere Clubs und Cafés in Berlin und führt eine Event- und Cateringfirma") vermisst einen Hund und mobilisiert dafür via Facebook "in Kreuzberg mehrmals 20 bis 40 Unterstützer" oder auch "50 Helfer in Berlin-Mitte" (unentgeltlich natürlich); der Hund wurde wohl von einem 12jährigen, der (vermutlich aus finanziellen Gründen) selbst keinen Hund haben darf, vor einem Drogeriemarkt angebunden entdeckt, mitgenommen und freigelassen. Was der betuchte Familienvater "unheimlich" findet: "Der Kleine hat gar keine Reue gezeigt, keine Gefühlsregung."
Sorry, aber die einzige Gefühlsregung, die sich bei mir angesichts solcher Upper-Class-Probleme besserverdienender Gentrifizierer einstellt, ist ein gewaltiger Ennui.
49: KP "Singulart"
53: KP "Joe Merino"
54-55: "Na danke, Spitzenköche" - ein Klagelied darüber, dass in der Küche des Verfassers ("nicht sonderlich groß, elf Quadratmeter" - da hat mancher Bauwagenbewohner oder Knastinsasse aber weniger zum Leben) kein Platz mehr ist für all die unaufgebrauchten Spezialzutaten der nachgekochten Spitzenkochrezepte; First-World-Problems at its worst.
56-60 + 62-64: Neben zwei halben Seiten KP (ein Landhotel + "Schiller Museum"): "Deutschland hat meine Mutter nie ganz losgelassen" - ein Interview mit dem Sohn der Schriftstellerin und Illustratorin Judith Kerr, die als Kind und Jüdin mit ihrer Familie 1933 Nazi-Deutschland verlassen musste, und das in eine ziemliche (und ziemlich erstaunliche) Deutschland-Lobhudelei ausartet.
61: KP "Weingut Mayer"
65-67: KP "Garmin", "Samsung" u.a.
68-70: "Luftschlösser" - über das offenbar neuerdings verbreitete Hobby, sich in Gedanken unerschwingliche Luxuswohnungen und Häuser einzurichten.
71: KP "Cubit" (Luxusmöbel)
72-81: "Im freien Fall" - Bericht über die Artistenfamilie Traber, in der seit über 200 Jahren patriarchale Traditionen hochgehalten werden. "Eine schmale Straße führt zu ihrem 5000 Quadratmeter großen Anwesen", dem "Reich der Trabers. Um einen gepflasterten Platz gruppieren sich eine weiß getünchte Kapelle, sieben große Garagen (...) und vier Häuser" (in denen insgesamt grade mal neun Leute leben, zwei davon Kinder).
"Die Trabers unterscheiden zwei Arten von Menschen: (...) 'Bauern`(...) und Leute wie sie selbst. (...) Vater (...) steht an der Spitze der Hierarchie (...) auf dem Seil (...) muss jedes Kommando widerspruchslos befolgt werden. Das wurde ihnen von klein auf eingebläut. (...) Der Patriarch (...) ist ein ebenso feinsinniger wie redseliger Mann (...)."
Eine Tochter gesteht: "Ich habe die Arbeit auf dem Seil nicht gemacht, weil ich so gerne Artistin bin (...). Ich habe das wegen der Tradition gemacht und auch wegen dem Papa."
Und dieser unglaublich gestrige, gewalttätige Familienfaschismus wird im ZM völlig unkritisch abgefeiert...
83: KP "ZEIT Shop"
84-85: KP "kauflust"
86-87: "Nicht von dieser Welt" + "Mirko Borsche testet" - kaum verkappte KP für Luxusprodukte
88-89: "Kennenlernen" - Kontaktanzeigen für die oberste Upper Class.
90-92: diverse Rätsel + ½ KP "ZEIT Hotels"
93: "Prüfers Töchter" - ausnahmsweise mal keine KP, nicht einmal durchs Hintertürchen
94: "HILFE!" - ein Psychologe beantwortet die Fragen einer gestressten High-Performerin...
95: KP "nubert" (Nobel-Boxen)
96: KP "Rado" (Schweizer Uhren)
Mein (hoffentlich nachvollziehbares) Fazit: Dieses Hochglanz-Magazin, dessen Daseinszweck ganz offenbar v.a. darin besteht, besonders hochpreisige Produkte zu bewerben und zu diesem Behufe ein wenig möglichst harmlosen, die potentielle (also besserverdienende und mehrheitlich mutmaßlich konservative bis reaktionäre) Käuferschaft nicht verschreckenden oder verärgernden Lesestoff zwischen die Anzeigen zu streuen, ist nichts weiter als materielle wie geistige Umweltverschmutzung.
Und es gibt noch immer Leute, die sich für gut informiert halten, wenn Sie dieses Wochenblatt kaufen. Tztztzt.
Wenn ich mich recht entsinne, haben Sie ja ein (-) Abo ;-)
P.S. Recht so (Abo)
Das Logelei-Rätsel im ZM ist allerdings zuweilen ganz angenehm knifflig.
Wir kündigten das Zeit-Abo u.a. weil das Wochenblatt damit günstiger ist als im Zeitungs- (Tabak-) Laden, und das zu Lasten des/der Postzusteller!
Vor allem aber, weil wir die First World Probleme der Redakteure nicht mehr ertrugen. Die sind ja noch Weltfremder als unsere Politiker.
Die SZ hat (oder hatte zumindest früher) auch ein - sogar unverbindliches, also ohne Kündigungspflicht vergebenes - Probeabo, welches ich lange Jahre, als ich noch im Erdgeschoss wohnte, genossen habe; jetzt allerdings wohne ich im 2. Stock ohne Aufzug und bin zu alt und/oder zu faul, jeden Morgen zum Briefkasten zu laufen (und Tagesaktualitäten gibt's ja auch im TV bzw. Internet).
Hab mir gestern noch mal das SZ Magazin genauer angesehen, es ist kein Deut besser, als das der Zeit. Der Reklameschwerpunkt ist etwas anders gelagert, ärgert mich aber auch immer.
Aber womöglich würde dadurch sogar das ganze restliche Heft teurer...
➥ Zur Petition Weiterentwicklung: Demokratie
➥ Das Prinzip Permanentes Plebiszit
We were all just hanging around waiting to die and meanwhile doing little things to fill the space.
Charles Bukowski