Ente am Ende
ars gratia artis
Freitag, 10. Juni 2016, 14:07

Politik ist, wie mir gerade eben wieder klar und deutlich vor Augen geführt wird, ein mühseliges, frustrierendes und für einen kleinen Pimmel Mann wie mich auch absolut nutzloses Geschäft; so will ich mich nunmehr Schönerem zuwenden und mein Lieblingsgedicht präsentieren, nämlich Lenore (das auch schon Edgar Allan Poe in seinem Poem The Raven aufgegriffen hat) vom vortrefflichen, gleich mir zweimal glücklos verheirateten und schon 46jährig verstorbenen Gottfried August Bürger (1747 – 1794), dem wir auch die literarische Gestalt der Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen verdanken; hier also die komplette Ballade (256 saftige Zeilen lang, am besten laut zu lesen), die auch schon der leider bereits selige Roger Willemsen † gelegentlich begeistert zitierte:
(Auf alle, die bis zum Ende durchhalten, wartet am Schluss noch eine schmucke Illustration)

Lenore fuhr um’s Morgenrot
Empor aus schweren Träumen:
„Bist untreu, Wilhelm oder tot?
Wie lange willst du säumen?“ –
Er war mit König Friedrichs Macht
Gezogen in die Prager Schlacht,
Und hatte nicht geschrieben,
Ob er gesund geblieben.

Der König und die Kaiserin,
Des langen Haders müde,
Erweichten ihren harten Sinn,
Und machten endlich Friede;
Und jedes Heer, mit Sing und Sang,
Mit Paukenschlag und Kling und Klang,
Geschmückt mit grünen Reisern,
Zog heim zu seinen Häusern.

Und überall all überall,
Auf Wegen und auf Stegen,
Zog Alt und Jung dem Jubelschall
Der Kommenden entgegen.
Gottlob! rief Kind und Gattin laut,
Willkommen! manche frohe Braut.
Ach! aber für Lenoren
War Gruß und Kuss verloren.

Sie frug den Zug wohl auf und ab,
Und frug nach allen Namen;
Doch keiner war, der Kundschaft gab,
Von Allen, so da kamen.
Als nun das Heer vorüber war,
Zerraufte sie ihr Rabenhaar,
Und warf sich hin zur Erde,
Mit wütiger Gebärde.

Die Mutter lief wohl hin zu ihr: –
„Ach, dass sich Gott erbarme!
Du trautes Kind, was ist mit dir?“ –
Und schloss sie in die Arme.
„O Mutter, Mutter! Hin ist hin!
Nun fahre Welt und Alles hin!
Bei Gott ist kein Erbarmen.
O weh, o weh mir Armen!“ –

„Hilf Gott, hilf! Sieh uns gnädig an!
Kind, bet’ ein Vaterunser!
Was Gott tut, das ist wohl getan.
Gott, Gott erbarmt sich unser!“ –
„O Mutter, Mutter! Eitler Wahn!
Gott hat an mir nicht wohl getan!
Was half, was half mein Beten?
Nun ist’s nicht mehr vonnöten.“ –

„Hilf Gott, hilf! Wer den Vater kennt,
Der weiß, er hilft den Kindern.
Das hochgelobte Sakrament
Wird deinen Jammer lindern.“ –
„O Mutter, Mutter! Was mich brennt,
Das lindert mir kein Sakrament!
Kein Sakrament mag Leben
Den Toten wiedergeben.“

„Hör’, Kind! wie, wenn der falsche Mann,
Im fernen Ungerlande,
Sich seines Glaubens abgetan,
Zum neuen Ehebande?
Lass fahren, Kind, sein Herz dahin!
Er hat es nimmermehr Gewinn!
Wann Seel’ und Leib sich trennen,
Wird ihn sein Meineid brennen.“ –

„O Mutter, Mutter! Hin ist hin!
Verloren ist verloren!
Der Tod, der Tod ist mein Gewinn!
O wär ich nie geboren!
Lisch aus, mein Licht, auf ewig aus!
Stirb hin, stirb hin in Nacht und Graus!
Bei Gott ist kein Erbarmen.
O weh, o weh mir Armen!“ –

„Hilf Gott, hilf! Geh’ nicht in’s Gericht
Mit deinem armen Kinde!
Sie weiß nicht, was die Zunge spricht.
Behalt’ ihr nicht die Sünde!
Ach, Kind, vergiss dein irdisch Leid,
Und denk’ an Gott und Seligkeit!
So wird doch deiner Seelen
Der Bräutigam nicht fehlen.“ –

„O Mutter! Was ist Seligkeit?
O Mutter! Was ist Hölle?
Bei ihm, bei ihm ist Seligkeit,
Und ohne Wilhelm Hölle! –
Lisch aus, mein Licht, auf ewig aus!
Stirb hin, stirb hin in Nacht und Graus!
Ohn’ ihn mag ich auf Erden,
Mag dort nicht selig werden.“ – –

So wütete Verzweifelung
Ihr in Gehirn und Adern.
Sie fuhr mit Gottes Vorsehung
Vermessen fort zu hadern;
Zerschlug den Busen, und zerrang
Die Hand bis Sonnenuntergang,
Bis auf am Himmelsbogen
Die goldnen Sterne zogen.

Und außen, horch! ging’s trap trap trap,
Als wie von Rosseshufen;
Und klirrend stieg ein Ritter ab,
An des Geländers Stufen;
Und horch! und horch! den Pfortenring
Ganz lose, leise, klinglingling!
Dann kamen durch die Pforte
Vernehmlich diese Worte:

„Holla, Holla! Tu auf, mein Kind!
Schläfst, Liebchen, oder wachst du?
Wie bist noch gegen mich gesinnt?
Und weinest oder lachst du?“
„Ach, Wilhelm, du? – So spät bei Nacht? –
Geweinet hab’ ich und gewacht;
Ach, großes Leid erlitten!
Wo kommst du hergeritten?“ –

„Wir satteln nur um Mitternacht.
Weit ritt ich her von Böhmen.
Ich habe spät mich aufgemacht,
Und will dich mit mir nehmen.“ –
„Ach, Wilhelm, erst herein geschwind!
Den Hagedorn durchsaust der Wind,
Herein, in meinen Armen,
Herzliebster, zu erwarmen!“ –

„Lass sausen durch den Hagedorn,
Lass sausen, Kind, lass sausen!
Der Rappe scharrt; es klirrt der Sporn.
Ich darf allhier nicht hausen.
Komm, schürze, spring’ und schwinge dich
Auf meinen Rappen hinter mich!
Muss heut noch hundert Meilen
Mit dir ins Brautbett eilen.“ –

„Ach! wolltest hundert Meilen noch
Mich heut ins Brautbett tragen?
Und horch! Es brummt die Glocke noch,
Die elf schon angeschlagen.“ –
„Sieh hin, sieh her! Der Mond scheint hell.
Wir und die Toten reiten schnell.
Ich bringe dich, zur Wette,
Noch heut ins Hochzeitbette.“

„Sag an, wo ist dein Kämmerlein?
Wo? Wie dein Hochzeitbettchen?“ –
„Weit, weit von hier! – Still, kühl und klein! –
Sechs Bretter und zwei Brettchen!“ –
„Hat’s Raum für mich?“ – „Für dich und mich!
Komm, schürze, spring’ und schwinge dich!
Die Hochzeitgäste hoffen;
Die Kammer steht uns offen.“ –

Schön Liebchen schürzte, sprang und schwang
Sich auf das Ross behende;
Wohl um den trauten Reiter schlang
Sie ihre Lilienhände;
Und hurre hurre, hopp hopp hopp!
Ging’s fort in sausendem Galopp,
Dass Ross und Reiter schnoben,
Und Kies und Funken stoben.

Zur rechten und zur linken Hand,
Vorbei vor ihren Blicken,
Wie flogen Anger, Heid und Land!
Wie donnerten die Brücken! –
„Graut Liebchen auch? – Der Mond scheint hell!
Hurra! Die Toten reiten schnell!
Graut Liebchen auch vor Toten?“ –
„Ach nein! – Doch lass die Toten!“ –

Was klang dort für Gesang und Klang?
Was flatterten die Raben? –
Horch, Glockenklang! Horch, Totensang:
„Laßt uns den Leib begraben!“
Und näher zog ein Leichenzug,
Der Sarg und Totenbahre trug.
Das Lied war zu vergleichen
Dem Unkenruf in Teichen.

„Nach Mitternacht begrabt den Leib,
Mit Klang und Sang und Klage!
Jetzt führ ich heim mein junges Weib.
Mit, mit zum Brautgelage!
Komm, Küster, hier! Komm mit dem Chor,
Und gurgle mir das Brautlied vor!
Komm, Pfaff, und sprich den Segen,
Eh wir zu Bett uns legen!“ –

Still Klang und Sang. – Die Bahre schwand. –
Gehorsam seinem Rufen,
Kam’s, hurre hurre! nachgerannt,
Hart hinter’s Rappen Hufen.
Und immer weiter, hopp hopp hopp!
Ging’s fort in sausendem Galopp,
Daß Ross und Reiter schnoben,
Und Kies und Funken stoben.

Wie flogen rechts, wie flogen links
Gebirge, Bäum und Hecken!
Wie flogen links, und rechts, und links
Die Dörfer, Städt und Flecken! –
„Graut Liebchen auch? – Der Mond scheint hell!
Hurra! Die Toten reiten schnell!
Graut Liebchen auch vor Toten?“ –
„Ach! Lass sie ruhn, die Toten.“ –

Sieh da! sieh da! Am Hochgericht
Tanzt um des Rades Spindel,
Halb sichtbarlich bei Mondenlicht,
Ein luftiges Gesindel. –
„Sasa! Gesindel, hier! Komm hier!
Gesindel, komm und folge mir!
Tanz uns den Hochzeitreigen,
Wann wir zu Bette steigen!“ –

Und das Gesindel, husch husch husch!
Kam hinten nachgeprasselt,
Wie Wirbelwind am Haselbusch
Durch dürre Blätter rasselt.
Und weiter, weiter, hopp hopp hopp!
Ging’s fort in sausendem Galopp,
Daß Ross und Reiter schnoben,
Und Kies und Funken stoben.

Wie flog, was rund der Mond beschien,
Wie flog es in die Ferne!
Wie flogen oben über hin
Der Himmel und die Sterne! –
„Graut Liebchen auch? – Der Mond scheint hell!
Hurra! Die Toten reiten schnell!
Graut Liebchen auch vor Toten!“ –
„O weh! Lass ruhn die Toten!“ – –

„Rapp’! Rapp’! Mich dünkt der Hahn schon ruft. –
Bald wird der Sand verrinnen –
Rapp’! Rapp’! Ich wittre Morgenluft ..
Rapp’! Tummle dich von hinnen! –
Vollbracht, vollbracht ist unser Lauf!
Das Hochzeitbette tut sich auf.
Die Toten reiten schnelle!
Wir sind, wir sind zur Stelle.“ – –

Rasch auf ein eisern Gittertor
Ging’s mit verhängtem Zügel.
Mit schwanker Gert ein Schlag davor
Zersprengte Schloss und Riegel.
Die Flügel flogen klirrend auf,
Und über Gräber ging der Lauf.
Es blinkten Leichensteine
Rund um im Mondenscheine.

Ha sieh! Ha sieh! Im Augenblick,
Huhu! ein grässlich Wunder!
Des Reiters Koller, Stück für Stück,
Fiel ab wie mürber Zunder.
Zum Schädel ohne Zopf und Schopf,
Zum nackten Schädel ward sein Kopf;
Sein Körper zum Gerippe,
Mit Stundenglas und Hippe.

Hoch bäumte sich, wild schnob der Rapp’,
Und sprühte Feuerfunken;
Und hui! war’s unter ihr hinab
Verschwunden und versunken.
Geheul! Geheul aus hoher Luft,
Gewinsel kam aus tiefer Gruft.
Lenorens Herz, mit Beben,
Rang zwischen Tod und Leben.

Nun tanzten wohl bei Mondenglanz,
Rund um herum im Kreise
Die Geister einen Kettentanz,
Und heulten diese Weise:
„Geduld! Geduld! Wenn’s Herz auch bricht!
Mit Gott im Himmel hadre nicht!
Des Leibes bist du ledig;
Gott sei der Seele gnädig!“

senf dazu



herr klimlof, 2016.06.10, 23:54
Das laute Verlesen von Gedichten erzeugt bei mir immer so etwas wie Andacht. Keine Ahnung, ob ich damit allein im Walde stehe, oder ob das eine allgemeine Wirkung von Poesie sein könnte.
Um das zu beurteilen, bin ich ein zu inbrünstiger Banause. Lyrik hat mich selten oder nie erreicht, obwohl ja durch die Schule genügend Berührungspunkte aufgeworfen wurden, anhand derer man seine eigene Positionierung diesbezüglich hätte der Lyrik annähern können.

Späterhin habe ich sogar mal eine Dichterlesung in einer Buchhandlung mitgemacht. Das wollte ich auch mal erlebt haben. Außerdem wollte ich testen, ob meine inzwischen erfolgte minimale Persönlichkeitsreifung möglicherweise die Pforten für die Poesie für mich etwas geöffnet hätte.
Als ich unlängst mal an diese Aktion dachte, wollte mir der Name des Dichters nicht einfallen. Drei Dekaden können ja so allerhand in die Bettritzen des Gedächtnisses entgleiten lassen. Aber nun fiel er mir wieder ein: Wolf Wondratschek, der damals der absolute Nummer1-Reimer in Wessiland (Wäre Westzone vielleicht besser?) war.
Die Präsenz des kleinen Mannes wat tatsächlich beeindruckend. Ebenfalls seine Wirkung auf die in großer Überzahl anwesenden lyrikaffinen Damen.
Seine vorgetragenen Gedichte hatten Hemmingway, der dadurch geehrt werden sollte, zum Inhalt und einen Berg (Vulkan?) in Mexiko, an dessen Fuß man dann auf mexikanische Weise -hochprozentig und vermutlich mit psychedelischem Wurm- dem Alkoholismus frönen konnte/sollte. Aber irgendwie hat mich bis auf die Trinkerphantasien -war schließlich selber proaktiver Schluckspecht- wenig angesprochen. Dennoch erwarb ich ein Buch des Poeten und fühlte mich der Poesie etwas jedenfalls ein kleines bischen näher.
Da wir in D ja das Land der Dichter&Denker sein sollen, könnte man diese meine Lesungsteilnahme als Akt kulturhistorischer Aufarbeitung und bodenständige Wurzelpflege einordnen.

Allerdings ist mein absoluter all-time-Lieblingsvers (seit vierzig Jahren!) folgendes Stück, dessen Autorenschaft im Dunkel liegt:
Goethe
spielt Flöte
auf Schiller
sein Piller
Kurz, prägnant, einfühlsam und nicht ohne ein Quäntchen Kritik. So funktioniert große Dichtkunst, schätze ich.

Die jüngste Dichterriege, die der deutschen Tradition des Reime Verfassens nachgeht, findet sich in der sogenannten Hiphop-Szene. Seit die aktiv sind, bin ich ein echter Fan des Gereimten geworden. Was Sido, Prinz Pi et al so hervorbringen, trifft meine lyrische Ader. Juhu, ich habe eine :-)
Die ungekrönten Könige dieses Metiers sind meines Erachtens die lustigen Burschen vom unvergesslichen Fischmop. Hier ein kleines Beispiel. Das Lied geht um die Volksdroge Nr1, den Alkohol, und seine möglichen Folgen. "Tut mir Leid" aus ihrem Erstlingswerk "Männer können seine Gefühle nicht zeigen"

Oha - diese ausgiebige Einlassung hab ich seinerzeit wohl übersehen - sorry.

Wolf Wondratschek ist natürlich ein Held, allein schon wegen des genialen Titels seines Erstlings: Früher begann der Tag mit einer Schußwunde (München 1969)
(Auch ein guter Titel: Ein Bauer zeugt mit einer Bäuerin einen Bauernjungen, der unbedingt Knecht werden will)

Den klassischen Goeteh-Schiller-Reim erinnere ich aus meiner Kinderzeit (von der antikapitalistischen LP "Warum ist die Banane krumm?") so:

Goethe sprach zu Schiller:
"Hol aus deinem Arsch nen Triller!"
Schiller sprach zu Goethe:
"Mein Arsch ist keine Flöte!"


... und für Liebhabende des gereimten Deutschraps möchte ich noch die Bands K.I.Z. und Antilopen-Gang lobend und empfehlend erwähnen.
senf dazu
 
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Zur Petition Weiterentwicklung: Demokratie
Das Prinzip Permanentes Plebiszit

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